Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Labyrinth oder war in der Bucht beim Schwimmen. Sie musste lächeln. Meine exzentrische Großmutter …
»Wie geht es deinem Freund?«
»Besser, danke.« Dan hatte sich mehrere Rippen gebrochen und eine schwere Gehirnerschütterung erlitten, sollte aber offenbar in einigen Tagen bereits entlassen werden. Gewiss würden sich seine zahlreichen Verwandten allesamt darum reißen, ihn gesund pflegen zu dürfen. Cari fühlte sich überflüssig. Seine Eltern besuchten ihn jeden Tag, seine Schwester war aus Bristol herbeigeeilt, und zu den Besuchszeiten erschienen immer diverse Tanten, Onkels, Cousinen, Cousins und Großeltern, die ihn mit Weintrauben, Schokolade und Zeitschriften überhäuften. Kein Wunder, dachte Cari, dass ich Dans Familie gern als die meine adoptiert hätte.
»Heißt das, du kommst bald zurück?« Aurelia klang weit entfernt.
Cari überlegte, ob sie sie nach Marco fragen sollte, verwarf es jedoch. Sie zog die Beine an und kuschelte sich in die Polster. Marco. Sie hatte es nie geschafft, die beiden einander vorzustellen, und Aurelia hatte sein Name nichts gesagt. Warum also sollte sie inzwischen etwas über ihn wissen?
»Ach, Cari, einen Augenblick, bitte!«
Cari hielt das Telefon ans andere Ohr. Sie vermisste Marco, obwohl sie tapfer dagegen ankämpfte. Sie versuchte der Tatsache nicht zu viel Wert beizumessen, dass sie in den zwei Wochen, die sie wieder in England war, nur einmal kurz telefoniert hatten. Wie er sie bei ihrer Rückkehr nach Ligurien wohl empfangen würde?
Immer noch mit dem Hörer in der Hand, stand sie auf, ging zum Tisch und steckte die Geldbörse und ihr Make-up in die Handtasche, dazu Taschentücher, Schlüssel und Handy. Marco hatte sie nicht gefragt, wann sie zurückkommen würde. Sie hatte ihm erzählt, was geschehen war und warum sie so plötzlich hatte abreisen müssen. Seither herrschte zwischen ihnen Schweigen.
Dann liebst du ihn also noch? Sie konnte seinen Tonfall nicht deuten, obwohl sie sich das Gespräch schon mindestens hundert Mal ins Gedächtnis gerufen hatte. Nein , hatte sie erwidert. Aber …
Sie schlüpfte in ihre Riemchenpumps. Marco hatte ihr immer noch nicht gesagt, was er für sie empfand. Sie wusste nun seinen vollen Namen, aber der Mann selbst war ihr immer noch ein Rätsel.
»Entschuldige, Liebes.« Aurelia war wieder am Apparat. »Meinst du, dass du bald wieder bei uns bist?«
»Das hoffe ich.« Cari sah die Terrasse von La Sirena genau vor sich. Die nächtliche Stille, die Windlichter, deren Schein an den weißen Wänden der Villa tanzte, das Geißblatt, die Töpfe mit den leuchtend bunten Blumen, das Licht des Mondes auf dem Holztisch … Was für ein Unterschied zu hier! Sie sah aus dem Fenster. Es hatte den ganzen Tag geregnet, und die Straßen Brightons glänzten vor Nässe. Sie war mit Edward zum Abendessen verabredet, und sie trug über ihrem weißen Leinenanzug eine warme Jacke. Und das Ende Juni! Sie würde auch noch für alle Fälle einen Regenschirm einstecken.
»Ich habe vor, mich morgen mit Dan auszusprechen«, fuhr Cari fort. Wenn sie denn endlich einmal allein mit ihm sein konnte. Er war jetzt sicher ausreichend genesen, denn er hatte ihr bereits lange, liebevolle Blicke zugeworfen und ihre Hand gehalten, während sie an seinem Bett saß. Sollte er damals am Telefon verstanden haben, dass es zwischen ihnen aus war, hatte er es offenbar verdrängt.
»Gut. Ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen.«
»Mir geht es umgekehrt ganz genauso.« Cari stellte sich vor, wie Aurelia sich in ihrem Stuhl zurücklehnte und die Düfte des Gartens einsog. Sie sah die Silhouette des Feigenbaums vor der Hauswand, den staubigen Pfad, der zum Labyrinth führte. Und dort im Zentrum Aurelias südländischen Matrosen.
»Carmella ist außer sich.«
Cari lächelte in sich hinein. Auch das konnte sie sich lebhaft vorstellen.
»Übrigens …«
»Ja?«
»Ach, das erzähle ich dir, wenn du wieder hier bist«, erwiderte Aurelia leichthin. »Außerdem ist Stefano zurück.«
Der so schwer zu fassende Stefano … »Und wie geht es Enrico?«
Ein kurzes Zögern am anderen Ende der Leitung. »Ach, weißt du …«
Cari unterdrückte ein Seufzen. Offenbar hatte sich nichts geändert. »Und lass mich raten, bestimmt ist es jeden Tag wolkenlos und sonnig?«
»Es ist heiß.« Ihre Großmutter klang müde. »An manchen Tagen fühle ich mich zu allem zu träge.«
Träge war nicht unbedingt ein Begriff, den Cari mit ihrer Großmutter in Verbindung bringen
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