Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
endlich gefunden, und schon muss ich dich wieder hergeben … – und mit kummervoller Miene hinzugefügt: »Ich hoffe, dein Freund wird wieder gesund.« Oh ja, dachte Cari, das hoffe ich auch. Von ganzem Herzen.
Enrico hatte sie freundlicherweise wieder nach Genua gefahren, ihr Gepäck getragen und gewartet, bis sie eingecheckt hatte. An der Sicherheitskontrolle hatte er sich von ihr verabschiedet. Und Marco …
Cari hatte mehrmals versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen, selbst überrascht, wie groß ihr Bedürfnis war, mit ihm zu reden. Irgendwie war er zu dem Menschen geworden, der ihr am meisten bedeutete. Derjenige, mit dem sie zusammen sein, mit dem sie Gutes und Schlechtes, die großen und kleinen Ereignisse des Alltags teilen wollte. Sie hoffte, dass auch sie ihm wichtig war. Edwards E-Mail hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, und sie brauchte jemanden, der ihr Halt gab, dem sie sich anvertrauen konnte. Sie wünschte sich Marcos Schulter, seinen Arm, seinen Trost. Liebte sie ihn? Sie war wohl doch mehr als gefährlich nah dran … Vielleicht hätte sie ihm das sagen sollen.
Doch sein Handy blieb abgeschaltet. Den ganzen Tag und die ganze Nacht. Das bedeutete, dass sie von ihm keinerlei Unterstützung erwarten durfte und keine Möglichkeit hatte, ihm mitzuteilen, dass sie Italien verließ. Er würde sich hoffentlich irgendwann in La Sirena melden. Aber was mochte er von ihrer plötzlichen Abreise halten? Und wenn er gar nicht vorhatte, noch einmal Kontakt mit ihr aufzunehmen? Vielleicht hatte er das Handy ja abgeschaltet, weil er nicht von Cari belästigt werden wollte?
Bei dem Gedanken schoss ihr das Blut ins Gesicht. Rasch senkte sie den Kopf und widmete sich dem Buch, das Aurelia ihr als Reiselektüre mitgegeben hatte. Nicht, dass sie sich aufs Lesen hätte konzentrieren können … Was war, wenn er sie nicht mehr wollte? Nun, da sie miteinander geschlafen hatten?
Sie schlug den Roman auf – die Geschichte einer Frau, die nach Italien reiste, wo sie sich verliebte und eine Sprachenschule eröffnete, o nein … – und klappte das Buch sofort wieder zu. Um Himmels willen, was war nur los mit ihr? Wie kam sie nur auf einen so dummen Gedanken? Natürlich würde er sie wiedersehen wollen. Es war wundervoll gewesen, einzigartig, aufregend, leidenschaftlich und … Sie dachte daran, was für ein Gesicht er hinterher gemacht hatte. Er hatte es bedauert. Aber das würde vergehen. Schließlich hatte er ihr seinen Traum anvertraut.
Schon war es Zeit fürs Essen. Die Passagiere klappten die Tische herunter und beäugten misstrauisch die kleinen, mit Zellophan umwickelten Schalen. Auch Cari nahm eine von der Stewardess in Empfang. Geschnetzeltes Hühnerfleisch (angeblich) in einer dicken, klebrigen gelben Soße – es wirkte nicht gerade appetitanregend. Nein danke! Lieber bestrich sie einen Cracker mit Butter.
Wann war es passiert? Sie hatte nicht auf das Datum von Edwards E-Mail geachtet, aber da sie erst noch vor ein paar Tagen mit Dan gesprochen hatte, musste es danach passiert sein. Hatte er sich nach ihrem Telefonat ins Auto gesetzt und wie ein Irrer Gas gegeben? Verdammt …
Dan hatte einen Autounfall. Sein Zustand ist kritisch. Wir wissen nicht, wie wir dich sonst kontaktieren könnten. Kannst du nach Hause kommen? Edward.
Nach Hause? War es immer noch ihr Zuhause? Wie schön wäre es, alle wiederzusehen, wieder in der eigenen Wohnung zu sein. Aber nicht unter diesen Umständen. Und sie war, verflixt noch mal, nicht bereit gewesen, nach Hause zu kommen. Tut mir leid, Dan. Aber ich war noch nicht bereit.
Sie hätte Dan ihre Telefonnummer in La Sirena geben sollen. Warum hatte sie das nicht getan? Man konnte (sollte?) sich nicht völlig aus der Welt ausklinken, in der man lebte. Man trug für die Menschen, die einen liebten, Verantwortung. Dan gegenüber. Kein Mensch ist eine Insel.
Kritisch? Würde Dan sterben? Cari ballte die Faust. Das Plastikmesser brach mitten entzwei.
Bitte stirb nicht, murmelte sie, bitte stirb nicht, Dan!
Es war fast wie bei einem Wetterhäuschen, bei dem die eine Figur verschwindet, sobald die andere in Erscheinung tritt: Kaum hatte Cari die Villa verlassen, tauchte Stefano auf der Terrasse auf. Aurelia nutzte gerade die Mittagszeit, um ein wenig zu zeichnen. Sie war nicht ganz bei der Sache – aber was hätte sie sonst tun sollen? Wenn ihr auch die Kunst nicht mehr helfen konnte, dann ging es ihr schlechter, als sie vermutet hatte.
»Stefano!« Es
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