Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
wandte sich Elena ihr zu. Ihre Augen leuchteten wie braune Glasperlen in der Sonne. Sie klatschte in die Hände. »Das wäre wirklich wunderbar.«
»Nein, ich bezweifle es.« Schon gar nicht nach dem Diebstahl. Die Privatsphäre war Enrico heilig. Und ihr ebenso.
»Nein?« Elena wirkte sichtlich enttäuscht.
Unvermittelt entsprach ihr Aussehen ihrem Alter. Besiegt. Oder eher zurückgewiesen, verbesserte Aurelia sich. Denn hin und wieder ähnelte Elena einem Kind – als habe sie sich dieses Verhaltens bedient, um sich durchzusetzen. »Da musst du Enrico fragen«, sagte sie entschieden. »Du weißt doch, wie sehr er jede Art von Wirbel hasst.« Schließlich war es sein Haus.
Gemächlich stiegen sie die steilen Stufen zu dem winzigen Hafen hinunter, in dem blaue und orangefarbene Boote auf dem Pier nebeneinanderlagen. Aurelia warf einen verstohlenen Blick auf Elena, um zu prüfen, wie sie ihre Worte aufgenommen hatte. Elena hielt den Kopf gesenkt und runzelte die Stirn, ein Zeichen ihrer Unzufriedenheit.
Stolz ragte an der Landzunge die Barockkirche mit ihrer Sonnenuhr und der Bronzeglocke auf und wachte über die bezaubernde Bucht. Am Strand stand eine italienische Familie. Die beiden braungebrannten Kinder bespritzten sich gegenseitig mit Wasser, schrien und kreischten vor Übermut. Weiter draußen schaukelten mehrere vertäute Boote sanft auf den Wellen.
Elena lehnte sich an die Absperrung. »Auf dich, meine Liebe, wird er hören«, sagte sie. »Wenn du es gutheißt, wird auch er nichts dagegen haben. Das weißt du doch genau.«
Aurelia war sich da nicht mehr so sicher. Enrico hatte sie schon lange nicht mehr gefragt, ob sie ihn denn nun heiraten wolle, und … Ach, mein Gott, wann hatte er ihr das letzte Mal gesagt, dass er sie liebe?
Elena hatte ihre Bestürzung gewiss bemerkt. Und sie falsch interpretiert. »Ist das zu viel verlangt?«, fragte sie.
Dass Elena nicht so schnell aufgeben würde, lag auf der Hand und schürte die Spannung zwischen ihnen noch mehr, nachdem sie die letzten Stufen genommen und sich auf die Felsen neben dem Anlegesteg niedergelassen hatten, die nackten Beine der Sonne zugewandt. Wie Elena trug auch Aurelia in dieser Jahreszeit bequeme bunte Sommerkleider und einen großen Strohhut. Ihnen gegenüber standen weitere hohe, schmale Häuser, deren Fassaden in Ocker, Safran und Kurkuma gestrichen waren. Die Gebäude wirkten, als lehnten sie an dem Hügel. Blumen schmückten die Balkone, Bettlaken und Handtücher bauschten sich an Leinen vor den geöffneten Fensterläden. Eine in Schwarz gekleidete Frau widmete sich auf dem Dachgarten ihren Pflanzen. Kaum hat der Frühling begonnen, dachte Aurelia, erwacht Ligurien zum Leben. Und hinter dem Dorf … Sie blickte hinauf. Hoch über den mit Kopfstein gepflasterten Straßen bemerkte sie den graugrünen, zarten und geheimnisvollen Dunst der auf den Hügeln liegenden Olivenhaine. Sie seufzte tief. Ja, Elena hatte sie in eine Zwickmühle gebracht. Und dennoch fühlte sie sich hier wie im Paradies. Nie hatte sie den Wunsch verspürt, wieder nach England zurückzukehren.
Natürlich fehlte etwas. Einerseits. Andererseits bot sich ihr hier alles, was ihr wichtig war. Sie hatte ihre Arbeit, bewohnte ein herrliches Haus inmitten der Landschaft, die sie so sehr liebte, hatte einen Gefährten zur Seite, Enrico, der gleichzeitig Freund war, und darüber hinaus Elena, wenngleich deren Gesellschaft zuweilen anstrengend sein konnte. Nicht zu vergessen ihre wertvolle, von Hester gefertigte und 1974 zu erheblichen Kosten nach Italien verschiffte Skulptur.
»Die willst du doch bestimmt nicht mitnehmen?«, hatte Richard gespöttelt. Sollte er sich doch ruhig über sie lustig machen.
Sie hatte sich entschieden – sie würde ihn verlassen, und wohin sie auch ginge, ihre Jade-Skulptur wäre dabei.
Aurelia saß in der Sonne, zurückgelehnt, die Augen geschlossen. Die Skulptur war das Vermächtnis ihrer Großmutter. Das Kunstwerk gehörte so selbstverständlich hierher wie Aurelia. Genau in die Mitte des Labyrinths, neben den Teich und die Bank aus Olivenholz.
Nachdem Hester gestorben war und Aurelia in Cornwall die Vermögenswerte ihrer Großmutter durchgesehen hatte, war einer der Nachbarn erschienen, dessen Hof am Ende der Straße lag, um Aurelia zu erzählen, dass Hester seit Jahren seine Scheune gemietet habe. Daraufhin hatte Aurelia sich in dem Schober umgesehen – und da hatte sie gestanden …
Eine Scheune voller Kunstwerke. Zunächst war ihr vor
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