Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Sie nickte.
»Sì.« Er nahm einen Schluck Wein. »Und wenn man von der Küstenstraße, dem lungomare , in das Dorf hineinfährt, trifft man auf eine andere Piazza. Mit einem Olivenbaum, einer Bank und einem Brunnen. Und natürlich einer Bar.«
»Oh, natürlich.« Cari lächelte und schloss die Augen, um sich alles besser vorstellen zu können.
»Die Straßen sind ein Labyrinth aus engen Gässchen. Und die Häuser sind hoch und schmal und stehen eng beieinander …« Er sah sie an und wartete auf ihre Bestätigung, dass sie verstanden hatte.
»So ähnlich wie Reihenhäuser?«
Er runzelte noch einmal die Stirn, schien aber dann zu akzeptieren, dass man dieses Wort verwenden konnte.
»Wie Reihenhäuser. Damit die Gassen Schatten bekommen«, fuhr er fort. »Um die Sonne abzuhalten.«
Ach ja, die Sonne … Cari streckte die Beine aus und stellte sich vor, wie die warmen Strahlen ihre Haut streichelten.
»Überall sind Blumen.« Er breitete die Arme aus. »Auf den Hängen, aber auch in Körben und Töpfen, an den Balkonen, in Blumenkästen.«
Cari konnte es sich lebhaft vorstellen. Eine duftende Farbenpracht aus roten und weißen Geranien und Lilien. Und vielleicht himbeerfarbene Bougainvilleen, die sich an den Steinmauern hochrankten.
»Und natürlich gibt es eine Kirche …«
»Natürlich.«
»Sie ist rosa und weiß gestrichen. Von außen sieht sie nicht besonders toll aus. Aber im Innern …« Er hielt inne. »Innen ist sie herrlich.« Wieder warf er die Arme in die Luft. »Wie eine Kathedrale.«
Cari lächelte. »Und wie ist das Haus deiner Großmutter?« Sie war neugierig. War es eines dieser schmalen Häuser in einer engen Gasse, oder stand es an der Piazza mit dem Brunnen und dem Olivenbaum? Oder war es vielleicht eine elegante Villa, die irgendwo versteckt mitten in der Landschaft lag?
»Das Haus meiner Großmutter liegt auf halbem Weg den Hügel hinauf«, sagte er. »Man erreicht es durch einen schmalen, von Jasmin gesäumten Pfad. Das Haus ist hellrot gestrichen und hat dunkelrote Fensterläden.« Er schloss einen Moment die Augen, als stelle er sich vor, dort zu sein. »Es hat einen schmalen Balkon und eine verwitterte steinerne Balustrade. Steinstufen führen hinauf zum Eingang. Das Haus ist alt.« Pause. »Und schön.«
Sehr poetisch. Marco mochte zwar in einer ihm fremdem Sprache sprechen, aber er wusste mit Worten umzugehen. »Das klingt phantastisch.« Sie spürte, dass er sein Zuhause liebte und es vermisste.
»Im Innern ist es eher dunkel und kühl«, fuhr er fort. »Draußen steht ein Kirschbaum. Und eine mit Wein bewachsene Pergola, unter der man an warmen Sommerabenden sitzt und seinen aperitivo trinkt.« Wie um ihr das zu demonstrieren, nahm er einen Schluck aus seinem Weinglas. »Das Haus ist seit vielen Generationen in Familienbesitz.«
Cari blickte aus dem Fenster. Die Landschaft hier war so anders als die von Marco beschriebene. Es regnete. Sommer in England, dachte sie. »Und was tust du dann hier?«, fragte sie ihn.
Sein Blick wurde abwesend, als wisse er es selbst nicht. Marco hatte etwas Lauerndes, Raubtierhaftes an sich, als könnte er sich im nächsten Moment auf sie stürzen. Und wenn er es tat? Wie, so fragte sie sich träge, würde sie reagieren? Bisher hatte er sich ihr gegenüber wie der perfekte Gentleman verhalten. Nein, sie hatte keine Gewissensbisse, weil sie hier in seiner Wohnung saß und mit ihm Wein trank. Warum auch? Zwischen ihnen war nichts vorgefallen. Warum also hatte sie Dan nichts von ihm erzählt? Forderte sie nun den Freiraum, den er ihr nicht zugestand? Oder war da doch mehr, etwas, was sie nicht wahrhaben wollte – zumindest jetzt noch nicht?
»Ich lerne Englisch«, meinte er. »Und ich arbeite.«
»Ach?« Das hatte sie nicht erwartet. Er hatte eindeutig den Eindruck erweckt, Student zu sein. »Seit wann?«
»Seit gestern«, lachte er.
»Wo?«
Leichtfüßig sprang er auf. »In dem Bistro in The Lanes. Das Bella Pizza .« Er verließ den Raum und kam gleich darauf mit der gut gekühlten Weinflasche zurück.
Sie hielt ihm ihr Glas zum Nachschenken hin. »Und ist sie auch bella ?«, fragte sie. »Die Pizza?«
Er verzog das Gesicht. »Wenn du wirklich italienisch essen willst«, meinte er, »musst du nach Italien fahren. Das ist der einzige Weg.« Beim Einschenken streifte er ihre Hand. Ob zufällig oder absichtlich, konnte sie nicht sagen.
»Vielleicht nehme ich dich beim Wort«, erwiderte sie. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Leben wieder in
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