Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
sie Richard nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt …
Sie saß im Zuschauerraum, beobachtete ihn, genoss den Anblick, als er über die Bühne schritt, sog den Klang seiner vollen, dunklen Stimme auf und erinnerte sich an den Augenblick, an dem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Wer liebte je und nicht beim ersten Blick , vernahm sie von der Bühne. O ja!
Kaum war die Vorstellung zu Ende, hastete sie in seine Garderobe. Sie wollte nicht wie verabredet in der Bar auf ihn warten, denn es drängte sie, ihn zu sehen und von ihm umarmt zu werden. Sie platzte beinahe vor Aufregung, ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Richard würde gewiss ein wundervoller Vater sein. Das würde ihm über schwierige Zeiten hinweghelfen, sollte er beispielsweise die Rolle, die er sich erhofft hatte, nicht bekommen und tagelang vor sich hin brüten. Es würde ihn davon abhalten, sich zu viele Drinks zu genehmigen, wenn er eine Geste als mangelndes Interesse deutete und jedes Wort auf die Goldwaage legte. Die neue Situation würde ihn erden und ihre Beziehung auf ein festes Fundament stellen.
Der Duft der Narzissen war das Erste, was sie beinahe umwarf, als sie die Tür öffnete. Zu stark und penetrant in dem kleinen Raum. Der zweite Schock war Janey, die, nach wie vor mit Bühnen-Make-up und im Shakespeare-Kostüm, auf Richards Schoß saß. Er küsste sie und liebkoste ihre Brüste, die aus dem aufgeschnürten Mieder ihres Kleides ragten.
Aurelia stand in der Tür – fassungslos. Kurz darauf spürte sie einen stechenden Schmerz im Leib. Nein! Nein, bitte nicht! Sie wollte ihrem ungeborenen Kind zurufen: Es ist alles in Ordnung. Ich bin hier. Ich behüte dich . Sie legte die Handflächen auf den Bauch, als solle das Kind nicht sehen, was sich in der Garderobe abspielte. Wie konnte er nur so etwas tun?
»Klopfst du nie vorher an?« Janey erhob sich träge, schob ihre Brüste zurück in das Kleid und griff nach dem Glas Wein, das auf dem Schminktisch stand und an dem bereits Spuren ihres scharlachroten Lippenstifts hafteten.
Um Fassung ringend, sprang Richard auf Aurelia zu. »Es tut mir leid, mein hinreißendes Mädchen, wir waren nur gerade ein bisschen albern. Das Adrenalin, die Freude über den Applaus. Du verstehst schon.« Er gab sich wie ein Kind und berührte ihr Kinn. »Oder?«
Aurelia starrte ihn an. Sie verstand ihn nur zu gut. Der Vorhang hatte sich gehoben, und nun sah sie ihn, ihren Mann, ihre Liebe, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Sie war regelrecht dankbar für den Zorn, der sie erfasst hatte. »Wie kannst du nur?«, fragte sie. »Noch dazu mit ihr?«
»He, warte mal eben!« Janey griff erneut nach ihrem Weinglas und bewegte sich zur Tür. Sie beugte sich vor, bis ihr und Aurelias Gesicht einander beinahe berührten.
Aurelia roch Janeys Atem. Wein und abgestandener Rauch, vermischt mit dem schweren Geruch der Narzissen, ließen sie beinahe würgen. Ihr Magen hob sich.
»Vergiss nicht«, zischte Janey ihr zu. »Ich war zuerst da, Schätzchen !«
Aurelia drehte sich um und lief hastig davon. Auch als sie seine Stimme hörte, blieb sie nicht stehen, umklammerte ihren Bauch und stieß geradewegs mit Stanley zusammen, dem Regisseur des Theaters.
»Aber hallo!«
Aurelia riss sich zusammen. Nein, sie würde nicht weinen. Nicht hier. Sie würde jetzt nach Hause gehen. Und dort weinen.
»Nehmen Sie es nicht so ernst!«, sagte Stanley.
Aurelia erkannte das Mitgefühl in seinen Augen. Wie dumm sie doch gewesen war! Er wusste es. Alle wussten es. Nur sie nicht. Richard und Janey waren schon ein Paar, bevor sie Richard kennengelernt hatte. Warum sollte sich irgendetwas ändern? Weshalb sollten sich durch eine Ehefrau – eine naive, alberne, dumme Ehefrau – Dinge ändern? »Ist schon in Ordnung«, sagte sie und versuchte zumindest einen Rest an Würde zu wahren. Würden sich alle später in der Bar über sie lustig machen? Sie konnte den Gedanken nicht ertragen.
Sie würde ihn verlassen, entschied sie, nachdem sie in das kleine viktorianische Reihenhaus zurückgekehrt war. Ihr blieb keine andere Wahl. Wie sollte sie nach dieser Begegnung mit ihm leben? Sie würde das Baby allein großziehen … Fragte sich nur, wohin sie gehen sollte. Nach Hertfordshire? Aurelia lief es kalt den Rücken hinunter. Auf keinen Fall würde sie zu ihm zurückkehren. Aber wie würde ihr Leben dann aussehen? Wie würde sie ihr Kind ernähren?
Sie war nicht gegangen – oder besser gesagt: nicht zu dem Zeitpunkt. In den
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