Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Terrassentür sie das Klavier sehen konnte. Zum Glück gab es keinen Ton von sich. Sie hatte in den letzten Wochen wahrlich genügend Musik gehört.
Elena ist eine vernünftige, freundliche Frau und wird bestimmt Verständnis für mich haben – sofern sie sich meine Erklärung anhört, dachte Aurelia. Zugleich fragte sie sich, ob sie überhaupt zu Wort kommen würde.
Nachdem Elena den Kaffee und einige mit Oliven, crostini und köstlichem Gebäck gefüllte Schalen auf den Tisch gestellt hatte, setzte sie sich kerzengerade auf einen schmiedeeisernen Stuhl und ließ sich über das Hochzeitskleid der Braut aus. »Carmella weiß genau, was sie will«, erklärte sie und warf den Kopf zurück. »Und so soll es auch sein. Aber die Couturiers in der Toskana … Pah! Die kann man wirklich vergessen!« Sie schob die crostini in Aurelias Richtung. »Wir müssen dafür nach Mailand fahren«, erklärte sie. »Oder nach Rom.«
Wir? Aurelia hatte nicht die geringste Lust, in eine Auseinandersetzung über weiße Spitze und elfenbeinfarbenen Satin verwickelt zu werden. »Enrico macht mir Kummer«, platzte sie heraus.
Elena setzte die Espressotasse ab. Der caffè war so sämig und schwarz wie Melasse. Enrico mochte ihn so auch am liebsten. »Ist er krank?«, fragte sie besorgt.
Aurelia fühlte sich bestätigt. Natürlich freute Elena sich auf die Hochzeit, doch am wichtigsten war ihr das Wohlergehen der Menschen, die sie liebte. Bei dieser Gleichung musste allerdings auch Carmellas Wohl einbezogen werden.
»Das nicht«, antwortete sie zögerlich. »Aber er äußert sich sehr zurückhaltend zu alldem.« Einsilbigkeit widersprach dem Naturell der Italiener generell und dem von Enrico im Besonderen. Für gewöhnlich hielten sie mit ihrer Meinung nicht nur nicht hinterm Berg, sondern waren außerordentlich mitteilsam.
»Wozu?« Elena wirkte mindestens ebenso verschlossen.
»Zu der Hochzeit.« Aurelia wünschte beinahe, sie hätte geschwiegen. Sie dachte an Enricos bedrückendes Schweigen, das nur durch das Umblättern der Zeitungsseiten unterbrochen wurde. Und wie er die Tasten anschlug, sobald sie ihre Malutensilien zusammenpackte und das Haus verließ. Der ihr Schuldgefühle einflößende Rhythmus verfolgte sie durch den Park, am Labyrinth vorbei bis zur Bucht. Zuweilen hatte sie das Gefühl, sie könne ihm nur entkommen, indem sie in das warme Salzwasser des Golfs eintauchte.
»Wortkarg?«
»Sein Widerwille, La Sirena anlässlich der Feier für unzählige Menschen zu öffnen, ist unvorstellbar. Glaub mir.« Und es ließ sich nicht leugnen, dass mit einer großen Gesellschaft zu rechnen war. Aurelia hatte sich die vorläufige Gästeliste angesehen – sie war geradezu beängstigend. Aurelia lehnte sich zurück und sah zu den Weinranken auf. Noch waren die Trauben winzig und grün, doch bis Ende des Sommers würden sie mattrot, prall und saftig sein. Was, überlegte sie, mochte sich bis zum Ende des Sommers noch verändert haben?
Elena spreizte die runzligen Hände. »Mir bleibt keine andere Wahl. Es gibt Menschen, die eingeladen werden müssen. Menschen, die gekränkt wären, wenn sie nicht dazugebeten würden. Wir sind eine große Familie, wir haben viele …«
»Das weiß ich doch.« Aurelia nahm einen Schluck Kaffee, während Elena ihr den Teller mit Gebäck zuschob. »Enrico fürchtet um unsere Privatsphäre. Er empfindet es so, als würden Leute in sein Haus kommen, die nichts anderes im Sinn haben, als ihre Nasen in unsere Angelegenheiten zu stecken.« Sie warf Elena einen vielsagenden Blick zu. Während die Italiener mit ihren Emotionen nicht hinter dem Berg hielten, zeigte sich diese Familie Fremden gegenüber meist lieber zurückhaltend.
»Pah!« Elena verdrehte die Augen. »Wen laden wir denn seiner Meinung nach ein? Etwa Krethi und Plethi?«
»Nein, aber …«
»Glaubt er tatsächlich, mir mangele es an Taktgefühl?«
»Nein, aber …«
»Nein …« Elena verschränkte die Arme über der Brust. »… ich sei unsensibel?«
Aurelia war von Anfang an klar gewesen, dass ein hartes Stück Arbeit vor ihr lag. Deshalb hatte sie einige Wochen verstreichen lassen, bevor sie dieses Thema ansprach. Doch die Uhr tickte. Außerdem ertrug sie Enricos distanzierte Höflichkeit und seine spürbare Verletzung nicht länger – von der Lautstärke seines Klavierspiels ganz zu schweigen. »Es geht nicht allein darum«, sagte sie. »Es ist unter anderem auch die Vorstellung, dass so viele Menschen in La Sirena durch die Räume
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