Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
wollte. Die Herkunft des Schmuckstücks interessierte ihn nicht. »Du solltest es verkaufen«, hatte er vorgeschlagen. »Du musst in die Zukunft schauen, anstatt ständig in der Vergangenheit zu graben.« Als fürchte Dan, Caris Interesse an ihrer Familiengeschichte ließe keinen Raum mehr für ihn.
War es tatsächlich so?, fragte sich Cari. Spürt er, dass ich von ihm forttreibe und mich nach etwas anderem als nach der Sicherheit und Unterstützung sehne, die er mir immer bieten will, und will er mir deshalb nicht gestatten, ich selbst zu sein?
Nein, sie würde den Anhänger nicht verkaufen. Niemals! Sie besaß ohnehin nur wenige wertvolle Erinnerungen an ihre Mutter. Das Schmuckstück war Tasmins Vermächtnis, das Cari bis an ihr Lebensende hüten würde.
Als sie den Kopf hob, ruhte Marcos Blick immer noch auf ihr. »Wir sind, wie sagt man, das Produkt unserer Vergangenheit«, erklärte er, als habe er ihre Gedanken gelesen.
Cari nickte.
Marco setzte sein Glas ab und nahm ihre Hand. Sanft strich er mit dem Daumen über ihr Handgelenk und verharrte auf ihrem Puls. »Du findest deinen Weg schon«, murmelte er. »Du wirst herausfinden, was du wissen willst.«
Cari war wie hypnotisiert. Seine Hand war so warm, so einladend. Aber welcher Weg mochte das sein? Welcher Stimme sollte sie folgen? Was konnte Marco möglicherweise darüber wissen? Und weshalb hatte ihre Hand gezittert? Warum überkam sie der Wunsch, dass er sie an sich ziehen, sie mitnehmen möge … und wohin? Lieber Gott, irgendwohin! Einfach fort von hier.
Sie hielt den Atem an. Was war los mit ihr? Sie benahm sich wie eine schwache Romanheldin. War Trauer so kräftezehrend, dass sie einem nicht nur die Vernunft, sondern auch den Seelenfrieden raubte?
Es klopfte.
»Cari?« Ohne eine Antwort abzuwarten, platzte Dan herein. Wie immer, dachte Cari.
»Dan …« Sie schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen.
Misstrauisch sah Dan sie an. »Was geht hier vor, verdammt noch mal?«
K
apitel 14
Es war nur ein kurzer Fußweg von Elenas Haus auf dem Hügel bis zu La Sirena , und Aurelia war der Meinung, ein Spaziergang sei jetzt genau das Richtige. Es war noch früh am Abend, die Luft kühl und erfrischend, und es ging talabwärts. Wie angenehm war es, in leichten Sandalen über das Kopfsteinpflaster zu spazieren, vorbei an hohen rötlichbraunen, sand- und ockerfarben gestrichenen Fassaden mit grünen Fensterläden und Blumenkübeln und Balkonen mit üppig blühenden Geranien. Aurelia liebte Italien im Frühling, diese Heiterkeit, die einem die allmählich wärmer und länger werdenden Tage vermittelten. Und es gab noch keine Touristenströme.
Aurelia gönnte sich neben den ausgetretenen Stufen zu einer geöffneten Eingangstür eine Verschnaufpause und lauschte dem Wortschwall einer Mutter, die eines ihrer Kinder wegen der verspäteten Rückkehr zum Abendessen rügte. Wie sie festgestellt hatte, waren die Dorfbewohner hinsichtlich der Pünktlichkeit zu den Mahlzeiten unerbittlich.
Was hatte das Dorf für Touristen denn auch zu bieten? Der Strand war aufgeteilt in Privatbuchten – eine davon gehörte La Sirena –, und die winzige Piazza konnte sich nur eines Lebensmittelhändlers, eines Obst- und Gemüseladens, eines Metzgers, eines Bäckers und einer Bar rühmen. Es gab gottlob weder trendige Restaurants noch Lederboutiquen oder Souvenirläden, die den Schiefen Turm von Pisa in Modellausführung anboten. Selbst Tellaro – das sich zu einem bevorzugten Ort für betuchte Italiener entwickelt hatte – war es gelungen, sich das ursprüngliche Flair zu bewahren. Sein Strand war zu felsig für Sonnenanbeter, die Straße zu steil und zu eng, die Geschäfte eher auf den Bedarf der Dorfbewohner ausgerichtet als auf die Erfüllung von Touristenträumen. Mit Ausnahme natürlich von Alfonzos Galleria d’Arte, die ihren Sitz dort hatte, wo sich das vornehme, kulturell anspruchsvolle Publikum tummelte. Aurelia schmunzelte. Die Flaniermeile war in nichts mit der Lower Esplanade in Brighton vergleichbar, die für jeden Geschmack, für gefüllte und weniger pralle Geldbörsen etwas zu bieten hatte.
Der Regen hatte gutgetan, fand Aurelia. Die Straßen waren längst nicht mehr so staubig, alles wirkte insgesamt sauberer – aber das mochte nur eine Täuschung sein, weil Italiener ihre Häuser innen und außen blitzblank hielten. Zudem duftete die Luft nach Harz und der üppigen Vegetation.
Als Aurelia die Piazza am Fuß des Hügels erreicht hatte, beschloss sie, sich
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