Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
ein kühles Bier zu genehmigen. Sie musste ihre Gedanken ordnen.
Enrico hat Recht gehabt, gestand sie sich ein, als sie über das Kopfsteinpflaster auf die Bar zusteuerte: Die Hochzeit wird uns das ganze Jahr in Anspruch nehmen. Der Sommer in Ligurien sollte eigentlich der Erholung dienen, aber das, was auf sie zukam, ähnelte eher einem Waldbrand. Wie oft schon hatte sie diese Flächenbrände auf den umliegenden Hügeln gesehen, die sich, erkennbar an einem roten Glühen am Himmel, ganz allmählich entwickelten. Ein Vorhang undurchdringlichen, erstickenden Rauchs, der sich über Kilometer ausbreitete – oft sogar bis zur Bucht. Für gewöhnlich bekamen die Feuerwehrleute Unterstützung von Helikoptern, die Behälter voller Sand und Löschwasser transportierten. Vor einigen Jahren war sie mit Enrico in den Olivengärten spazieren gegangen und hatte einen dieser Brandherde aus der Nähe gesehen. Für die Olivenhaine bestehe keine Gefahr, hieß es, aber das konnte Aurelia kaum glauben. Das Feuer hatte sich enorm ausgeweitet. Die Luft schien zu dröhnen, und die heißen Flammen brannten sich einem schier in die Knochen. Ein grellroter Fleck, der mit Hilfe des Windes ausgedörrtes Gras und Ginsterstauden erfasste und sich bis in die Täler ausbreitete. Gottlob hatte er weder die Olivenhaine noch Behausungen erreicht. Doch Aurelia würde sich nie an diese Gefahr gewöhnen.
Auch die bevorstehende Hochzeit entwickelte sich allmählich zu einem Brandherd. Elena wieselte mit dem Elan einer Frau mittleren Alters umher und spannte auch Aurelia ein, ob diese nun wollte oder nicht. Ständig gab es etwas zu besprechen, sei es die Speisenfolge oder die Frage eines Zeltes. Elena hatte Aurelia auch darüber informiert, dass sie einige Musiker ansprechen und die Auswahl der musikalischen Untermalung allein Enrico übertragen wolle.
»Das kannst du ihm ja erzählen«, hatte Aurelia geantwortet.
Nun betrat sie die schummerige Bar. »Buona sera. Una birra, per favore.«
Der grauhaarige Mann, der servierte, blickte sie finster an. Luigi. Sie hatte bereits von ihm gehört, aber für gewöhnlich bediente seine Frau in der Bar. Luigi blickte eigentlich immer nur finster.
Aurelia war diese Art Umgang in dem Dorf, das ihren Namen trug, bereits gewohnt. Sie neigte dazu, sich diese Behandlung nicht zu Herzen zu nehmen, und hielt sich stattdessen öfter in Tellaro auf, einem ihrer Meinung nach weitaus kultivierteren Ort. Aber es überraschte sie dennoch, da sie beinahe überall in Italien überaus freundliche Menschen angetroffen hatte. Aus braungebrannten, zerfurchten Gesichtern lächelte man ihr entgegen und grüßte sie mit Buon giorno , noch ehe sie der italienischen Sprache mächtig war, verwickelte sie in Gespräche und Plaudereien und gab Ratschläge, als sie die Sprache beherrschte. Aber wieso war es in dem Dorf Aurelia so anders? Betrachteten die Bewohner sie etwa als Feindin, weil auch sie diesen Namen trug? Waren sie in Sorge, dass sie ihr Dorf womöglich einnehmen wollte?
»Schöner Tag, nicht wahr?«, wandte sie sich an Luigi. Britisch bis ins Mark – im Zweifel unterhält man sich eben über das Wetter, eine Gegebenheit. Wie könnte das zu Kontroversen führen?
Doch Luigi ließ eine Tirade in einem Tempo los, die sie nur bruchstückhaft verstehen konnte. Der Inhalt hatte aber offenbar nichts mit dem Wetter zu tun. Aurelia war sprachlos.
»Euh!« Zornig sah er sie an. Mit jeder Sekunde verfärbte sich sein Gesicht mehr.
Vielleicht hat er ja zu viel Grappa getankt, überlegte Aurelia. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm.
»Hat er Ihnen erzählt, wie sie gestorben ist?«, fragte Luigi plötzlich gut verständlich.
Sie starrte ihn an. Nein, sie brauchte nicht zu fragen, von wem er sprach. So viele Jahre waren vergangen, aber sie wusste es auf Anhieb … »Danke.« Sie bot alles an Würde auf, was ihr zur Verfügung stand, nahm ihr Bierglas und ging hinaus. Bedächtig nahm sie unter der schattigen Pergola Platz. Warum …?, fragte sie sich. Warum, nach so langer Zeit? Was mochte er über Catarinas Tod wissen?
Sie hatte natürlich auch schon darüber nachgedacht. Vermutlich wäre jeder neugierig, wenn er einen Mann kennenlernte, dessen Frau vor nicht allzu langer Zeit gestorben war, obwohl sie erst Ende vierzig war. Aurelia war nicht die Einzige, die sich die Frage nach der Todesursache stellte. Aber ihr Taktgefühl und ihre Sensibilität hatten sie anfangs davon abgehalten, sich danach zu erkundigen.
Sie nippte an ihrem
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