Das Erbe des Vaters
ich.«
»Arthur?«
Er streichelte die zerschrammte Schnauze des Hundes. »Er ist mir zugelaufen und geblieben. Ein armer Kerl – ich glaub, den hat jemand fürchterlich mißhandelt.«
»Und was ist mit Arbeit? Hast du eine Arbeit, Jem?«
Er war damit beschäftigt, seine Zigarette zu drehen, und schüttelte nur den Kopf.
»Ich hab mir vorhin eine Zeitung gekauft«, sagte sie. »Ich könnte dir beim Suchen helfen.«
»Nicht nötig.« Er zog einen braunen Umschlag aus seiner Tasche. »Ich bin ja jetzt achtzehn. Das hier hat auf mich gewartet, als ich nach Hause kam.«
In dem Umschlag war Jems Einberufungsbefehl. Romy stellte ihn sich mit kurzgeschorenem Haar in khakibrauner Uniform zusammen mit fünfzig anderen Rekruten in einer eiskalten Kaserne vor.
»Geh heute abend mit uns aus, Romy«, sagte er. »Die letzten Tage der Freiheit müssen noch richtig gefeiert werden.«
»Ich muß heute abend arbeiten.«
»Dann am Montag«, meinte er, und sie nickte glücklich.
»Es ist so schön, daß du da bist, Jem. Wie geht es Mam?«
»Ganz gut. Sie arbeitet abends im Rising Sun. So edel wie dein Hotel ist das allerdings nicht.« Er lächelte. »Ich wette, die essen da drinnen von goldenen Tellern.«
»Von weißem Porzellan.« Sie dachte an ihr letztes Gespräch mit Mrs. Plummer. »Es ist nur vorübergehend, Jem. Die behalten mich da nicht.«
»He!« Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Kopf hoch!«
»Warte nur, eines Tages haben wir unsere eigene Wohnung. Ein eigenes Zuhause, ganz für uns allein, ohne Dennis. Wenn ich genug Geld gespart habe.«
Er beugte sich ein wenig vor und zog an seiner Zigarette. »Irgendwo, wo’s schön ist, ja.«
Sie drückte seine Hand. »Komm mit, ich zeig dir mein Zimmer.«
Er blickte an sich hinunter. »Ich glaub nicht, daß ich da hinpasse, so, wie ich ausschau.« Seine Kordhose war an den Knien durchgescheuert, und die Manschetten seiner Jackenärmel waren zerschlissen.
»Das macht doch nichts.« Aber wahrscheinlich machte es doch etwas. Sie würde ihn die Hintertreppe hinaufschmuggeln müssen.
Er schüttelte den Kopf. »Wie spät ist es?«
»Gleich fünf.«
»Ich muß los …« Er warf seine Zigarette ins Gras und gab ihr einen Kuß auf die Wange. Der Hund sprang von der Bank und stellte sich hechelnd, mit erwartungsvollem Blick neben seinen Herrn. »Wir sehen uns am Montag«, sagte Jem. »Da machen wir richtig einen drauf.« Er klimperte mit den Münzen in seiner Hosentasche. »Ich lad dich ein.«
Als Romy ins Hotel zurückkehrte, stand Mrs. Plummer im Gespräch mit dem Portier auf der Vortreppe. »Ich höre, der verlorene Bruder ist wieder da«, sagte sie zu Romy.
»Ja, Jem ist in London, Mrs. Plummer.«
»Das freut mich für Sie, mein Kind. Das bedeutet wohl, daß Sie uns verlassen werden.«
Ein Wagen fuhr vor. Bevor Mrs. Plummer einstieg, sagte sie noch: »Kommen Sie bitte morgen vormittag zu mir ins Büro, Romy. Pünktlich um elf.«
Sie ging in ihr Zimmer hinauf, um sich für den Abenddienst in der Bar fertigzumachen. Auf dem Bett sitzend begann sie, sich die Haare auszubürsten. Sallys Nachthemd, das ordentlich gefaltet auf dem Kopfkissen des anderen Betts lag, erinnerte sie daran, daß sie das Zimmer nicht mehr für sich allein hatte.
Bald, vielleicht in ein paar Tagen schon, würde sie ganz von hier fortmüssen. Sie war ohnehin schon viel zu lange geblieben. Schließlich hatte ihr Mrs. Plummer bei ihrer Ankunft klar und deutlich gesagt, daß sie nur mit einer vorübergehenden Beschäftigung im Hotel rechnen konnte. Und Romy hatte seit Sallys Rückkehr selbst gemerkt, daß es hier keine richtige Arbeit für sie gab, daß sie im Grunde genommen nur gebraucht wurde, um einzuspringen, wenn jemand vom Personal krank oder im Urlaub war.
Sie blätterte im Evening Standard , den sie sich am Morgen gekauft hatte, und sah die Stellenangebote durch. Aber sie konnte sich nicht darauf konzentrieren, und nach einer Weile legte sie die Zeitung weg und stand auf. Sie ging zum Fenster und blickte zu den inzwischen vertrauten Dächern und Schornsteinen hinaus. Der Duft des Lavendels, den Jem ihr mitgebracht hatte, würzte die Luft im Zimmer. Morgen vormittag, dachte sie unglücklich, würde sie zu Mrs. Plummer ins Büro gehen, und die würde ihr kündigen. So war es ja von Anfang an vereinbart gewesen. Es war liebenswürdig genug von Mrs. Plummer gewesen, sie so lange hierzubehalten. Aber ihr graute vor dem Abschied vom Trelawney. Sie fühlte sich hier wohl, sie hing
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