Das Erbe des Vaters
an dem Hotel beinahe wie an einem Zuhause, und die Arbeitskollegen waren ihr zu einer Art Ersatzfamilie geworden. Wieder würde sie irgendwo ganz von vorn anfangen müssen, diesmal ohne die gespannte Erwartungsfreude, die sie trotz aller Bedrücktheit auf der letzten Reise von Stratton nach London begleitet hatte.
Ein heftiger Groll erfaßte sie bei dem Gedanken, daß sie sich schon wieder von einem Ort losreißen mußte, an dem sie sich heimisch fühlte. War es denn zuviel verlangt, fragte sie sich bitter, sich ein Zuhause zu wünschen? Es war, als wäre durch die tragischen Umstände jener ersten Vertreibung aus Middlemere ein Muster entstanden, das sie nicht durchbrechen konnte. Das ganz gewöhnliche Paradies eines Zuhauses und einer Familie, dieses Paradies, das für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit war, sollte ihr offenbar verwehrt bleiben. Das ursprüngliche Unrecht schien sich vervielfacht zu haben und warf einen langen, dunklen Schatten.
Als sie nach unten ging, entdeckte sie ihn im Foyer, den dunkelhaarigen Mann aus Middlemere. Sie erkannte ihn sofort wieder. Sobald er sie bemerkte, stand er aus seinem Sessel auf und eilte auf sie zu.
Zorn packte sie. Wie kam dieser Mann, dessen Familie ihr das Zuhause und die Kindheit genommen hatte, dazu, sich hier blicken zu lassen?
»Mr. –« Sie erinnerte sich des Namens auf den Briefen, die auf dem Tisch in der Diele von Middlemere gelegen hatten. »Mr. Hesketh –«
»Caleb Hesketh.« Er bot ihr die Hand, aber sie beachtete sie nicht. Statt dessen bedeutete sie ihm, ihr vom Empfang weg in eine ruhige Ecke des Foyers zu folgen.
»Was tun Sie hier?«
»Ich wollte Sie etwas fragen.«
»Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?« fragte sie aufgebracht. »Wer hat Ihnen gesagt, daß ich hier bin?«
»Jemand im Dorf hat mir die Adresse Ihrer Mutter gegeben. Und sie hat mir dann gesagt, daß Sie hier arbeiten. Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht belästigen. Aber –« er runzelte die Stirn – »an dem Tag, als Sie in unser Haus –«
»– in unser Haus«, warf sie scharf ein.
Er antwortete mit einer besänftigenden Geste. »An dem Tag, als Sie nach Middlemere kamen – an dem Tag hörte ich zum erstenmal von Ihrer Familie. Ich hatte keine Ahnung, was geschehen war – mit Ihrem Vater, meine ich. Aber danach habe ich mit verschiedenen Leuten gesprochen – mit meiner Mutter und Mr. Daubeny. Ach, und mit einer Frau namens Anita Paynter, und –«
»Annie Paynter?« Einen Moment lang war sie mehr verwundert als zornig. »Sie haben mit Annie Paynter gesprochen? Über mich? Wieso?«
»Anfangs war es einfach Neugier, denke ich. Und dann – na ja, dann bekam ich immer mehr den Eindruck, daß da was nicht stimmt.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte sie kalt, »und warum Sie mich damit behelligen.«
»Mr. Daubeny erklärte mir, für den Räumungsbefehl wäre Paynter verantwortlich gewesen, aber mir wurde ziemlich schnell klar, daß Paynter von Daubeny abhängig war, und darum –«
»Wer ist das?« unterbrach sie. »Wer ist Mr. Daubeny?«
»Osborne Daubeny ist der Eigentümer von Middlemere. Er ist gewissermaßen unser Pachtherr.«
Osborne Daubeny ist der Eigentümer von Middlemere . Sie begann zu begreifen. »Das heißt«, sagte sie langsam, »daß dieser Mr. Daubeny bestimmt, wer das Haus bewohnen darf?«
»Richtig.«
Sie starrte Caleb Hesketh an. »Und er hat auch bestimmt, wer nach uns dort einzieht?«
»Natürlich.«
»Und er hat sich für Ihre Familie entschieden.«
»Für meine Mutter und mich.«
»Was ist mit Ihrem Vater?«
»Er ist im Krieg gefallen. Nicht lange vor unserem Umzug.«
Gegen ihren Willen packte sie die Neugier. »Was ist dieser Mr. Daubeny für ein Mensch?«
»Er ist reich und gehört zu den besseren Leuten. Und er hält sehr viel von sich selbst.«
»Ach, und Sie wollen jetzt herausbekommen, warum Ihr Mr. Daubeny uns unser Haus weggenommen hat? Wissen Sie es denn nicht?«
Caleb war verwirrt. »Es hatte mit der Kriegsbewirtschaftung zu tun, oder nicht?«
»Kann sein. Aber ich glaube es nicht«, versetzte sie voller Verachtung. »Mein Vater war kein schlechter Bauer, ganz gleich, was die Leute damals gesagt haben. Das war doch nur ein Vorwand.«
»Wofür?«
»Um das Haus seiner Geliebten zu geben.«
Caleb riß die Augen auf. »Bitte?«
»Mir ist das schon vor Monaten aufgegangen.« Sie mußte lächeln, als sie sein Gesicht sah. »Ihr Mr. Daubeny«, sagte sie langsam und deutlich,
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