Das erste Buch der Traeume
Moment. »Kann ich auf dich zählen, Henry?«, fragte er dann.
Henry antwortete nicht sofort. Er und Arthur sahen einander in die Augen. Es schien, als würden sie sich mit Blicken duellieren.
Ich schluckte. Wenn Arthur und Anabel vorhatten, das Ritual im Traum zu vollenden, bauten sie darauf, dass sie die Möglichkeit hatten, aus ihrem selbst inszenierten Albtraum unbeschadet wieder aufzuwachen. Aber was, wenn sie sich irrten?
Ich tastete nach einem Grabstein neben mir. Diese Träume hier waren anders. Ich hatte Henrys Berührungen auf meiner Haut ganz genau gespürt, jeden Lufthauch, den Druck seiner Hand, seinen Kuss, und auch jetzt spürte ich die raue Oberfläche des alten Grabsteins unter meiner Hand. Wie würde sich erst ein Dolch auf der Haut anfühlen, ein Schnitt, Blut …
»Das könnt ihr nicht tun«, sagte ich und merkte, dass ich kurz davor war, die Nerven zu verlieren. »Ihr habt keine Ahnung, was dann mit Anabel passieren wird.«
»Sie hat recht, Arthur. Das geht zu weit«, sagte Henry.
»Du verstehst es immer noch nicht, Henry. Wir haben keine Wahl!« Arthur sah zornig und verzweifelt zugleich aus. »Er lässt uns keine andere Möglichkeit, und wir haben einen Eid geleistet.«
»Man hat immer eine Wahl«, sagte Henry eindringlich. Er legte eine Hand auf Arthurs Schulter. »Wir müssen das nicht tun. Du musst das nicht tun.«
Arthur biss sich auf die Lippe. »Lass mich jetzt nicht im Stich.«
»Das tue ich nicht«, erwiderte Henry sanft. »Uns fällt eine andere Lösung ein. Bis Halloween ist es noch fast einen Monat hin.«
»Eine andere Lösung«, wiederholte Arthur, und in seinen Augen glomm so etwas wie ein Hoffnungsfunke auf. Für eine Sekunde hatte ich das Gefühl, alles würde gut werden. Henry hatte das hier im Griff. Oder vielmehr hatte er Arthur im Griff.
Aber dann hörte ich das Knurren. Direkt hinter mir.
Ich drehte auf dem Absatz herum und starrte in die leeren Augen einer Statue. Es war ein riesiger Hund aus Stein, der auf einem Sockel vor einem moosbewachsenen Grabmonument lag, im Schatten einer efeuberankten Eiche.
Wieder ein Knurren, dann zuckte eine der steinernen Pfoten. Und langsam, ganz langsam hob das Vieh seinen Kopf.
»Henry?« Okay, jetzt keine Panik.
»Lass das, Arthur«, sagte Henry, aber Arthur schüttelte den Kopf.
»Ich mache gar nichts.« In seiner Stimme schwang Furcht mit, dieselbe Furcht, die sich auch meiner bemächtigt hatte. »Ich bin das nicht.«
In diesem Moment richtete sich das Vieh zu voller Größe auf. Als es knurrte, entblößte es eine Reihe gewaltiger Reißzähne. Gleich würden wir vermutlich wissen, wie es sich anfühlte, im Traum von solchen Zähnen zerfleischt zu werden. Oh verdammt. Wir mussten raus hier, so schnell wie möglich!
Arthurs Tür! Wo zur Hölle war sie? Mein Blick raste über die verwitterten Kreuze und Grabsteine. Da – die Metalltür! Eingelassen in die Mauer des monumentalen Grabmals, bewacht von den beiden Engelstatuen.
»Henry, schnell! Da rüber!«, rief ich, und Henry griff nach meinem Arm.
»Zurück, Liv!« Er hatte den Blick auf die Krone der Eiche gerichtet.
Der Hund setzte zum Sprung an, aber bevor er uns erreichte, donnerte der Baum auf ihn nieder.
Ich wartete nicht ab, ob Henry das Vieh wirklich erwischt hatte, sondern zerrte ihn hinüber zu den steinernen Engeln. Mit einem Ruck riss ich die Metalltür auf und taumelte in den Korridor.
Doch Henry drehte sich noch einmal um. »Wach verdammt nochmal auf, Arthur«, rief er seinem Freund zu, der immer noch auf derselben Stelle stand und mit weitaufgerissenen Augen auf die riesige Baumkrone starrte. »Wach auf!«
In dem Moment, als er die Tür krachend ins Schloss fallen ließ, fühlte ich etwas Warmes, Feuchtes auf meiner Wange. Und das Nächste, was ich sah, war Buttercups Hundeschnauze und ihre raue Zunge, die liebevoll über mein Gesicht fuhr. Vor dem Fenster dämmerte bereits der Morgen herauf. »Danke, dass du mich geweckt hast, Butter«, murmelte ich und versuchte zu Atem zu kommen, während ich mich an ihr warmes, weiches Fell drückte. »Ich habe gerade von einem wirklich bösen Hund geträumt.«
Und von ein paar anderen wirklich beunruhigenden Dingen.
29.
»Hi.« Das »Käse…« brachte Henry gerade noch heraus, aber das »…mädchen« schaffte er nicht mehr.
Er stand, angetan mit Frack und Abendschuhen, in der Einfahrt der Spencers, und das erste Mal, seit ich ihn kannte, hatte es ihm offenbar die Sprache verschlagen. So jedenfalls sah er
Weitere Kostenlose Bücher