Das erste Mal und immer wieder
konnten nach Belieben hereinschauen. Ich fühlte mich sicher, nur das mit den Gurten um meinen Körper verstand ich nicht. So lange, bis ich die Notwendigkeit begriff. Ich kam auf Entzug. Ich winselte und schrie, ich bettelte und drohte. Ich zerrte an den Fesseln und beschimpfte jeden, der sich mir näherte. Nach drei Tagen war alles vorbei. Schlaff und kraftlos lag ich da und starrte an die Decke. Da stand in großer Schrift: »Bewahren Sie Ruhe. Sie befinden sich in der Privatklinik Dr. Steinhagens.«
Den Namen und jede der geschriebenen Rundungen werde ich niemals vergessen.
Danach wurde ich verlegt, kam nun in ein kleines Häuschen mit nur vier »Mitkranken«. Jeder hatte ein eigenes Zimmer. Es waren alles nette Männer. Sie wussten schon von meiner Ankunft und hatten auch »läuten« gehört, was mir fehlte. Sie waren zauberhaft, hilfsbereit, freundlich und lieb. Der nächste Schock kam beim »ersten medizinisch-therapeutischen Gespräch«.
»Vier Monate werden Sie laut Erfahrungswerten bleiben müssen, Verlängerung nicht ausgeschlossen.« Ich starb innerlich. Wollte telefonieren, durfte nicht. Keine Post, kein Telefon, keine Besuche. Wenigstens die ersten Wochen. Ich wurde mit mir selbst konfrontiert und von der Umwelt abgeschnitten. Mir blieb nichts übrig außer zu akzeptieren. Meine Taschen wurden durchsucht, und alle meine »Notfalltabletten« wurden konfisziert.
»Ab sofort werden Sie wieder ohne das Zeug leben müssen.« Und ungeachtet meiner aufsteigenden Panik brachten sie alles vor mir in Sicherheit.
Es folgte die erste Nacht von vielen, in der ich vorm Fenster kniend den lieben Gott um Hilfe anflehte.
Was folgte, waren drei Monate härtester Therapie. Alle meine Ängste und Attacken wurden durch Situationen, die ich lange gemieden hatte, ausgelöst, und ich musste nun darin ausharren. Man zwang mich, allein mit einem öffentlichen Bus zu fahren. Man ließ mich in einem festgeklemmten Fahrstuhl stecken, brachte mich auf hohe Türme, lange Baracken und ließ mich in dunklen Tunneln allein zurück. Ich schwitzte und weinte, formulierte meine Gefühle und versuchte zu lernen, dass ich nicht sterben würde, wenn ich mich bewegte.
Man verordnete mir Fitness und kalte Duschen zum Wachwerden, Tanzabende und lange Radtouren. In anderen Sitzungen wurde mein Inneres auseinander genommen, jede Kleinigkeit meines Lebens besprochen und hervorgeholt. Ich kaute auf meinem Leben herum und kehrte langsam und mühevoll ins Leben zurück. Gruppentreffen folgten. Ich hörte den anderen und ihren Ängsten zu und konnte teilweise nachvollziehen und manchmal gar nicht verstehen, was da los war.
Ich lernte Menschen kennen, die Angst hatten, in der Öffentlichkeit zu essen. Ich traf welche, die Angst hatten zu sprechen. Menschen, die beziehungsunfähig waren, Menschen, die mit dicken Krankenordnern unter dem Arm selber Analysen und Blutbilder anforderten, um eine verheerende Krankheit zu entdecken.
Suchtkranke jeder Art kreuzten meinen Weg und berührten meine Seele. Alkoholabhängige, Drogenkranke, die ausgemergelt und grauenvoll verkommen bereits zum zehnten Mal hier waren. Menschen, die sicher waren, eines Tages ein Feuer zu legen, und Menschen, die einfach nicht mehr leben wollten. Ich sah sie umherschleichen mit totem Blick, auf der Suche nach einer Chance, es endlich zu beenden. Schwer Depressive und Hochmanische sah ich genauso wie Menschen, die vor Angst schrien, weil sie sicher waren, jeden Moment qualvoll ersticken zu müssen.
All das nahm ich in mir auf, schloss Freundschaften, spielte mit ihnen Schach, las mit ihnen Bücher und trieb mit ihnen gemeinsam Sport. Und wollte nicht mehr dazugehören. Wollte mein Leben zurück. Brauchte meinen Sohn und wollte alles gutmachen. Immer wenn einer entlassen wurde und alles von ihm abgefallen war, wurde ich neidisch. Immer wenn jemand erneut zurückkam, bekam ich große Angst. Angst, nun dazuzugehören, Angst, einer von denen zu sein, die immer wieder kamen. Denn diese seelischen Krankheiten konnten leider nicht immer geheilt werden. Es gab Traumata und andere Auslöser.
Mein ganzes Leben war voll davon, und eine Zeit lang suchten wir den »alles entscheidenden« Moment. Es gab unterschiedliche Methoden, und wir beschlossen, mein Leben nicht weiter auseinander zu nehmen, sondern dafür zu sorgen, dass mein Leben zurückkam. Eine genaue Analyse hätte womöglich Jahre gedauert, und ich hatte schon viel zu viel Zeit an diese »Sache«, an diese »Krankheit«,
Weitere Kostenlose Bücher