Das erste Schwert
Traumszene vor; der Felsen
bewegte sich
und gab ein tiefes, rumpelndes Donnergrollen von sich.
Stück für Stück dämmerte ihm,
was
er da sah: Aus steinernen Wölbungen und Kanten formten sich Gliedmaßen, schartige Felsoberfläche verwandelte sich in klumpige
graue Haut, die wie mit einer glitzernden, moosigen Schlammschicht bezogen war. Die kleinen Auswüchse am oberen Teil jener ... Wesenheiten wurden zu flachen Köpfen, die direkt auf den riesigen Felskörpern saßen. Und diese höhlenartigen Spalten waren
in Wirklichkeit Mäuler – und sie stießen jenes Grollen aus, das er für Donner gehalten hatte.
Und endlich begriff er. Das waren ...
... Felslinge.
Sie sahen genauso aus, wie Baba Yagna sie am behaglichen Herdfeuer immer beschrieben hatte. Und nach einer Weile begriff Erle
noch etwas; nämlich, dass sie diese
Geräusche
nicht ohne Sinn und Verstand von sich gaben. O nein!
Sie sangen ein Lied.
Mit einem ängstlichen Schnauben brach Karas Stute zur Seite hin aus, riss sich los und galoppierte davon, in den Wald.
|194| Die Mutter des Waldes
»Na großartig!«, flüsterte Ellah. »Und was machen wir jetzt?« Wortlos starrten sie alle dahin, wo die Stute verschwunden war.
»Wir gehen weiter«, sagte Kara schließlich. Auch jetzt noch klang ihre Stimme beherrscht. »Gut möglich, dass wir ohne Pferd
leichter an diesen Dingern vorbeikommen. Habt ihr eine Ahnung, ob sie gefährlich sind?«
»Felslinge sind das«, murmelte Erle düster.
Kara warf ihm einen flüchtigen Blick zu.
Die Wesenheiten in der Lichtung nahmen auch jetzt noch keinerlei Notiz von ihnen. Ihr Donnersingen wurde lauter, die Bewegungen
deutlicher. Unmöglich, sie für leblose Felsen zu halten. Wie Kegel mit gewölbtem Standfuß schwangen sie in weitem Kreisen
hierhin und dorthin – die grotesken Leiber bewegten sich eindeutig im Rhythmus ihres Gesangs!
Und Erle konnte den Blick nicht mehr von ihnen lassen, und vergessen waren alle Eile und Gefahr, die ihnen hier drohen mochte.
Das Risiko war groß. Jeden Moment konnten die Monster sie entdecken, und er wusste nichts über ihr Wesen und ihre Absichten.
Alles war möglich: dass sie die Neuankömmlinge weiterhin vollständig ignorierten, oder aber sich auf sie warfen und sie zerstampften.
Eine Hand packte ihn beim Ellenbogen. »Beweg dich!«, raunte ihm Kara ins Ohr. »Nach links, immer am Rand der Lichtung entlang.
Und vergiss nicht, aufzupassen, wohin du trittst.«
Diese Ermahnung war nötig, aber nur schwer zu befolgen. Schon nach fünf Schritten steckte sein rechter Fuß in etwas Kaltem
und Klebrigem fest. Dieses Mal unterdrückte er den |195| Fluch. Wie er mit einem raschen Blick über die Schulter sah, erging es Ellah nicht besser.
Er machte sich keine Illusionen: Ihre Lage war hoffnungslos. Waren die Felslinge feindlich gesonnen, dann hatten sie keine
Chance. Waren sie’s nicht, blieb immer noch der Pfuhl selbst als schwer zu besiegender Gegner. Und wie sollten sie Skip wiederfinden,
wo der schwammige Grund doch jeden Fußabdruck in sich aufsaugte? Wo sollten sie überhaupt nach ihm suchen? Und selbst, wenn
sie ihn fanden ... Wie sollten sie jemals wieder aus dieser Hölle hinausfinden?
Seufzend zerrte Erle seinen Fuß frei, auch das Rankengespinst, das ihn umhüllte, ließ sich nach einigem Hin und Her abschütteln.
Gleichzeitig hörte er ein fernes Knirschen und Bersten und Krachen. Er erstarrte, noch bevor Karas Hand warnend hochruckte.
Sie standen und horchten.
Etwas Großes näherte sich ihnen – ungefähr aus jener Richtung, in die Karas Stute davongaloppiert war. Konnte es sein, dass
Shadow zurückkam? Einfach so, aus freien Stücken?
Behutsam atmete Erle ein. So leise wie möglich zog er die schwere Axt aus dem Gürtel. Wohlvertraut schmiegte sich die Rundung
des glattpolierten Holzes in seine Hände. Es tat gut, diese Waffe zu halten, sein rechtmäßiges Erbe. Falls es ihm vorherbestimmt
war, an diesem Morgen zu sterben, so würde er dies wenigstens auf anständige Art und Weise tun.
Hinter ihm atmete Ellah scharf ein. Er wollte ihr zurufen, zu laufen, doch wohin sollte sie sich an diesem verfluchten Ort
wenden?
Er konnte die Anspannung in Karas katzenhaft geduckter Haltung spüren; sie war hochkonzentriert und bereit.
Sie warteten.
Das Splittern und Bersten wurde sehr laut. Was auch immer diese Geräusche verursachen mochte – es kam näher. Hinter ihnen,
jenseits der Büsche am Rande der Lichtung.
|196| Aus
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