Das Eulenhaus
aufschnitt. Und wenn sie das mal selbst gemacht hatte, war es immer falsch herum gewesen, überlegte Gerda verzweifelt. Ach du liebe Güte, die Sauce war ja schon steif – da war schon eine Haut oben drauf – und John kam bestimmt jeden Moment. – Ihre trüben Gedanken rannten im Kreis herum… wie ein Tier in der Falle.
John Christow saß zurückgelehnt in seinem Sprechzimmersessel und trommelte mit einer Hand auf den Tisch. Ihm war völlig klar, dass oben längst das Essen wartete, aber er schaffte es trotzdem nicht, sich aufzuraffen.
San Miguel… blaues Meer… Mimosenduft… leuchtend rote Bougainvillea zwischen grünen Blättern… die heiße Sonne… der Staub… dieses verzweifelte Lieben und Leiden…
O Gott, dachte er, bloß das nicht. Nie wieder! Das ist aus…
Er verspürte plötzlich den Wunsch, Veronica nie kennen gelernt, Gerda nie geheiratet und Henrietta nie getroffen zu haben…
Mrs Crabtree, dachte er, ist mehr wert als die alle zusammen. Was für ein Nachmittag war das gewesen, letzte Woche. Er hatte sich so gefreut über ihre Werte. Sie vertrug jetzt schon fünf Milligramm. Und dann war die Toxizität doch rasant angestiegen, die Donath-Landsteiner-Reaktion doch nicht positiv, sondern negativ gewesen.
Und die alte Schachtel war blau angelaufen und hatte einfach japsend dagelegen und ihn mit maliziösen, widerspenstigen Blicken bedacht: »Sie wolln wohl’n Versuchskaninchen aus mir machen, was, Dockterchen? Is’n Laborversuch – von der milderen Sorte.«
»Na, wir wollen Sie doch auch wieder auf die Beine bringen«, hatte er lächelnd geantwortet.
»Ach, ich hab Sie durchschaut. Sie sind gemein!«, hatte sie plötzlich gegrinst. »Is mir aber wurscht, sei’n Sie’s ruhig. Weiter so, Dockter! Irgendwer muss ja der erste sein, was? Hab mir ja als junges Ding Dauerwellen gemacht, ehrlich. War damals noch gar nich so üblich. Ich hatte ‘n richtigen Krauskopp, ehrlich. Bin gar nich mit’m Kamm durchgekommen. Und was soll ich sagen – ich hab’s trotzdem genossen. Jetzt genießen Sie das mal alles weiter – ich kann das ab.«
»Geht Ihnen ziemlich dreckig, nicht?« Er legte ihr die Hand auf den Puls, und seine Lebenskraft ging auf die keuchende alte Frau im Bett über.
»Dreckig, ganz recht. Is so ziemlich das Wort! Sie hatten sich das wohl anders gedacht, was? Machen Sie sich nichts draus. Verlieren Sie bloß nich’n Mumm, ich kann was ab, ehrlich!«
»Sie sind wunderbar«, sagte John Christow anerkennend. »Wenn doch alle meine Patienten so wären.«
»Ich will, dass es mir besser geht – dafür halt ich das aus! Ich will, dass es mir besser geht. Meine Mutti ist nämlich acht’nachtzig geworden – und unsere alte Omi war sogar neunzig, wie sie abgetreten ist. Wir haben alle’n langes Leben in unserer Familie, ehrlich wahr.«
John Christow hatte sich elend gefühlt, nachdem er gegangen war. Zweifel und Unsicherheit nagten an ihm. Er war so sicher gewesen, dass er auf der richtigen Spur war. Was war denn da schief gelaufen?
Wie ließ sich das toxische Potenzial verringern und gleichzeitig das hormonelle konstant halten und das Pantratin neutralisieren?
Er war doch tausendprozentig sicher gewesen – er hatte doch zweifellos alle Klippen umschifft gehabt.
Genau da, auf der Treppe des St.-Christopher-Krankenhauses hatte ihn eine jähe, hoffnungslose Mattigkeit gepackt – eine Art Hass auf die ganze ewige, langsame, ermüdende Klinikarbeit. Und plötzlich war Henrietta ihm eingefallen, aber er musste nicht an sie selbst denken, sondern an ihre frische, aufgeweckte Schönheit, ihre strotzende Vitalität und Gesundheit – und an diesen Hauch Primelduft in ihren Haaren.
Er hatte zuhause angerufen, kurz mitgeteilt, dass er noch Hausbesuche machen müsse, und war schnurstracks zu Henrietta gefahren. Mit Riesenschritten war er durch das Atelier gelaufen, hatte Henrietta in seine Arme gerissen und mit einer in ihrer Beziehung neuen Heftigkeit an sich gedrückt gehalten.
Ihr Blick hatte ganz kurz Verblüffung und Neugier ausgestrahlt. Aber dann hatte sie sich aus seinen Armen gelöst und war einen Kaffee für ihn kochen gegangen. Auf dem Weg durch das Atelier hatte sie ihn mit allerlei nebensächlichen Fragen bombardiert – ob er, zum Beispiel, direkt aus dem Krankenhaus komme.
Vom Krankenhaus wollte John nichts mehr hören. Er wollte mit Henrietta schlafen und das Krankenhaus und Mrs Crabtree und den Morbus Ridgeway und den ganzen anderen Kladderadatsch
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