Das Eulenhaus
das war Vergangenheit – und nur weil dieser Konflikt nie gelöst worden war, weil er selbst so erbärmlich gelitten hatte unter der Angst, er sei – geradeheraus gesagt – »abgehauen«, war Veronicas Bild nie wirklich von ihm gewichen. Aber heute Abend war sie aus einem Traum zu ihm gekommen, und er hatte den Traum angenommen und war jetzt, Gott sei Dank, für immer davon befreit. Er war wieder in der Gegenwart – und da war es drei Uhr morgens und nicht ganz unwahrscheinlich, dass er einen ziemlichen Haufen Mist gebaut hatte.
Er war drei Stunden mit Veronica zusammen gewesen. Sie war hereingesegelt gekommen wie eine Piratenfregatte, hatte ihn aus seiner Umgebung gerissen und wie eine Beute mit sich geschleppt, und er überlegte jetzt fieberhaft, was wohl die anderen sich gedacht hatten.
Was hielt zum Beispiel Gerda von all dem?
Und Henrietta? Obwohl er sich über Henrietta nicht solche Sorgen machte. Henrietta konnte er notfalls alles erklären. Gerda dagegen könnte er das nie erklären.
Und er wollte doch, nein, er wollte auf keinen Fall etwas verlieren.
Er war sein Leben lang jemand gewesen, der – in vernünftigen Maßen – Risiken einging. Risiken bezüglich Patienten, Risiken bezüglich einer Medikation, Risiken bezüglich Investitionen. Sie waren nie irrwitzig – es war immer die Art Risiko, die gerade eben oberhalb der Sicherheitsschwelle lag.
Wenn Gerda etwas ahnte – wenn Gerda auch nur den geringsten Verdacht schöpfte…
Wäre das denn denkbar? Was wusste er eigentlich wirklich über Gerda? Normalerweise würde Gerda Weiß glatt für Schwarz halten, wenn er das behauptete. Aber bei so einer Sache…
Wie hatte er gewirkt, als er Veronicas hochgewachsener, triumphaler Gestalt durch die Terrassentür gefolgt war? Was hatte sein Gesicht gesagt? Hatten die anderen darin einen liebeskranken, benommenen Jüngling gesehen? Oder einfach nur einen erwachsenen Mann, der einer Höflichkeitspflicht nachkommt? Er wusste es nicht. Er hatte nicht die geringste Ahnung.
Aber er hatte Angst – Angst um die wohl geordnete Sicherheit seines Lebens. Er war verrückt gewesen – ziemlich verrückt, dachte er gereizt. Und fand plötzlich Trost in diesem Gedanken. Das würde doch bestimmt niemand glauben, dass er so verrückt sein konnte?
Alle lagen im Bett und schliefen, soviel stand fest. Die Terrassentür zum Salon stand halb offen – extra für ihn. Er sah hoch an dem unschuldigen, schlafenden Haus. Es sah irgendwie – zu unschuldig aus.
Plötzlich schrak er zusammen. Er hatte gehört oder zu hören geglaubt, wie sich irgendwo leise eine Tür schloss.
Er riss den Kopf herum. Wenn nun jemand hinter ihm her zu dem Schwimmbecken gegangen war. Wenn dieser Jemand auf ihn gewartet hatte und ihm wieder zurückgefolgt war, dann hatte er vielleicht einen Weg weiter oben genommen und war durch die seitliche Tür zum Garten wieder ins Haus gelangt, und die Seitentür konnte genauso leise ins Schloss fallen, wie er es eben gehört hatte.
Er sah zu den Fenstern hoch. Hatte sich da eine Gardine bewegt – hatte jemand sie zur Seite geschoben, um hinauszusehen, und sie dann wieder zufallen lassen? Es war Henriettas Zimmer.
Henrietta! Nein, nicht Henrietta, schrie sein Herz in jäher Panik. Henrietta darf ich nicht verlieren!
Er verspürte den dringenden Wunsch, ein paar Kieselsteine an ihr Fenster zu werfen und nach ihr zu rufen. »Komm raus, meine Allerliebste. Komm raus zu mir und geh mit mir durch den Wald hoch zum Shovel Down, und da hör mir zu – hör dir alles an, was ich über mich weiß und was du auch wissen musst, wenn du es nicht schon längst weißt.«
Er wollte Henrietta sagen: »Ich fange ganz von vorne an. Heute fängt ein neues Leben an. Alles, was mich verkrüppelt und behindert hat, ist von mir abgefallen. Du hattest Recht heute Nachmittag, als du gefragt hast, ob ich vor mir selbst davonlaufe. Genau das habe ich jahrelang getan. Weil ich nie wusste, ob ich aus Stärke oder aus Schwäche von Veronica weg musste. Ich hatte Angst vor mir selbst, Angst vor dem Leben, Angst vor dir.«
»Und wenn er Henrietta weckte und aus ihrem Bett holte, damit sie mit ihm durch den Wald kam und sie zusammen die Sonne über den Rand der Welt aufgehen sahen?«
»Du bist ja verrückt«, sagte er zu sich. Ihn schauderte. Es war jetzt schon kühl, immerhin Ende September. »Was zum Teufel ist los mit dir?«, fragte er sich. »Für einen einzigen Abend hast du dich schon dämlich genug benommen. Wenn du damit
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