Das Eulenhaus
im Bett nebenan. Mrs Crabtree war auf seiner Seite, sie wollte leben, obwohl Gott allein wusste, wieso, wenn man bedachte, in was für einem Slum sie lebte, mitsamt einem Alkoholiker als Mann und einem Rudel ungezogener Gören, und in was für endlosen Korridoren von endlosen Bürogebäuden sie tagaus, tagein zu putzen gezwungen war. All die erbarmungslose Schinderei und kaum Vergnügen! Aber Mrs Crabtree wollte leben, sie lebte gern – genau wie er, John Christow, gern lebte! Nicht wegen der Umstände – sondern einfach wegen des Lebens selbst, der Lust am Dasein. Es war etwas Merkwürdiges, das man nicht erklären konnte. Er beschloss, mit Henrietta darüber zu reden.
Er stand auf und geleitete seine Patientin zur Tür. Er drückte ihr freundlich und aufmunternd die Hand. Auch seine Stimme war aufmunternd, voller Anteilnahme und Mitgefühl. Sie fühlte sich wie neugeboren, beinahe glücklich. Dr. Christow nahm so viel Anteil!
Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, hatte John Christow sie schon vergessen. Er hatte sie auch vorher, als sie noch im Sprechzimmer gewesen war, kaum wahrgenommen. Er hatte seine Sachen abgespult. Der reine Automatismus. Und obwohl sein Hirn höchstens oberflächlich berührt war, hatte er doch Kraft ausgestrahlt. Er hatte automatisch reagiert, wie der Heiler zu reagieren hat, und er merkte, was für einen Energieverlust das bedeutete.
Gott, dachte er wieder, bin ich müde.
Nur noch eine weitere Patientin und dann die klare Weite des Wochenendes. Bei diesem Gedanken verweilte er. Das goldene Laub, das schon rot und braun gefärbt war, der feuchte, linde Herbstgeruch – die Straßen durch den Wald – die kleinen Feuer, Lucy, das einzigartige, reizende Geschöpf mit dem irrlichternden, nicht zu greifenden Geist. Henry und Lucy waren ihm die liebsten Gastgeber. Und das »Eulenhaus« war das entzückendste Haus, das er kannte. Sonntag würde er mit Henrietta einen Waldspaziergang machen, den Hügel hoch und dann weiter die Kammlinie entlang. Beim Spazierengehen mit Henrietta würde er vergessen, dass es überhaupt kranke Menschen auf der Welt gab. Gott sei Dank fehlt ihr nie irgendwas, dachte er.
Dann fiel ihm etwas ein, das ihm in Sekundenschnelle die Laune verdarb: Mir gegenüber würde sie das aber auch nie durchblicken lassen!
Eine Patientin noch. Er musste die Klingel auf seinem Schreibtisch drücken. Er schob es auf, ohne selbst zu verstehen, warum. Er kam doch jetzt schon zu spät. Das Essen stand längst auf dem Tisch oben. Gerda und die Kinder warteten schon. Er musste weitermachen.
Aber er blieb regungslos sitzen. Er war so müde – so furchtbar müde.
Die Müdigkeit hatte zugenommen in letzter Zeit. Sie war die Ursache seiner ständig wachsenden Gereiztheit, die er an sich bemerkte, aber nicht abstellen konnte. Die arme Gerda, dachte er, sie muss einiges aushalten. Wenn sie nur nicht so unterwürfig wäre, so bereitwillig alles auf sich nähme, obwohl er selbst doch mindestens halb so oft selber Schuld hatte! Es gab Tage, an denen sich alles, was Gerda tat oder sagte, verschwor, um ihm lästig zu sein. Und es waren vor allem, wie er reumütig zugab, ihre Tugenden, die ihn so reizten. Ihre Geduld, die Selbstlosigkeit, mit der sie ihre Wünsche den seinen immer unterordnete – all das machte ihm schlechte Laune. Und nie nahm sie seine Wutausbrüche übel, nie beharrte sie auf ihrer eigenen Meinung, nie versuchte sie auch nur, etwas im eigenen Namen durchzusetzen.
Na, aber deshalb hast du sie doch geheiratet, dachte er, oder etwa nicht? Worüber beklagst du dich eigentlich? Nach dem Sommer damals in San Miguel…
Eigenartig, wenn man mal darüber nachdachte – genau die Eigenschaften, die ihn bei Gerda ärgerten, vermisste er bei Henrietta schmerzlich. Und was ihn bei Henrietta ärgerte – nein, ärgern war das falsche Wort: was ihn zornig machte bei Henrietta, das war ihre unkorrumpierbare Aufrichtigkeit ihm gegenüber. Sie entsprach so gar nicht ihrer sonstigen Haltung gegenüber der Welt. Einmal hatte er zu ihr gesagt: »Ich glaube, ich kenne niemanden, der so lügt wie du.«
»Kann schon sein.«
»Dir ist völlig egal, was du sagst, wenn es die Leute nur gern hören.«
»Das finde ich auch wichtiger.«
»Wichtiger, als die Wahrheit zu sagen?«
»Viel wichtiger.«
»Und warum kannst du dann in Gottes Namen nicht mir gegenüber ein bisschen öfter lügen?«
»Soll ich das?«
»Ja.«
»Tut mir leid, John, das kann ich nicht.«
»Du musst doch ganz oft
Weitere Kostenlose Bücher