Das Experiment
Anschließend zeigten sie ihr ähnliche Tiere, die mit Ultra und mit Imipramin behandelt worden waren.
Kim gab sich Mühe, interessiert zu wirken, obwohl sie Tierexperimente eigentlich verabscheute.
Dann war François an der Reihe und führte Kim in einen abgeschirmten Raum, wo der Kernspintomograph untergebracht war, und versuchte ihr zu erklären, wie er die Struktur des Bindeproteins für Ultra zu ermitteln versuchte. Kim verstand kaumetwas von seinen Ausführungen, nickte deshalb nur und lächelte, wenn er eine Pause machte.
Als nächste kam Eleanor und führte Kim wieder nach oben zu ihrem Computer, wo sie ihr wortreich schilderte, was Molekularmodellierung bedeutete und daß sie sich bemühte, Wirkstoffe herzustellen, bei denen durch Permutation der Grundstruktur ein gewisses Maß der Bioaktivität von Ultra auftreten sollte.
»Das war äußerst interessant«, sagte Kim, als Eleanor schließlich ihren Vortrag beendete. »Vielen Dank, daß Sie sich soviel Zeit für mich genommen haben.«
»Warten Sie!« sagte François. Er eilte zu seinem Schreibtisch und kam mit einem Stapel Fotos wieder zurück. Er zeigte sie Kim und fragte, was sie davon halte. Es waren bunt eingefärbte PET-Scans.
»Ich finde, sie sind…« Kim suchte nach einem möglichst nicht albern klingenden Wort. »Dramatisch«, sagte sie schließlich.
»Ja, nicht wahr?« sagte François und legte den Kopf etwas zur Seite. »Wie moderne Kunst.«
»Und was erkennen Sie darin?« wollte Kim wissen. Sie wäre jetzt lieber gegangen, aber weil alle sie beobachteten, fühlte sie sich genötigt, eine Frage zu stellen.
»Die Farben geben Konzentrationen von radioaktivem Ultra wieder«, erklärte François. »Rot ist die höchste Konzentration. Diese Scans zeigen ganz deutlich, daß das Präparat sich maximal im oberen Gehirnstamm, im Mittelhirn und im limbischen System lokalisiert.«
»Ich erinnere mich, wie Stanton damals beim Abendessen vom limbischen System gesprochen hat«, sagte Kim.
»Ja, das hat er«, sagte François. »Dabei handelt es sich um einen Teil des primitiveren oder reptilischen Gehirnteils, das sich um die autonomen Funktionen kümmert wie Laune, Emotion und sogar Geruch.«
»Und Sex«, sagte David.
»Was heißt ›reptilisch‹?« fragte Kim. Für sie hatte das Wort einen häßlichen Beigeschmack.
»Das sind die Teile des Gehirns, die Reptiliengehirnen ähnlich sind«, erklärte François.
»Das ist natürlich eine krasse Vereinfachung, aber ganz falschist es nicht. Obwohl das menschliche Gehirn sich aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt hat, von dem auch die heutigen Reptilien abstammen, ist es natürlich nicht so, als würde man ein Reptiliengehirn nehmen und ein paar Gehirnhemisphären daraufstecken.«
Kim sah auf die Uhr. »Jetzt muß ich wirklich gehen«, sagte sie. »Ich muß einen Zug nach Boston erwischen.«
Damit konnte sie sich endlich von den Wissenschaftlern loseisen, die sie alle aufforderten, möglichst bald wiederzukommen. Edward brachte sie hinaus.
»Fährst du wirklich nach Boston?« fragte er.
»Ja«, sagte Kim. »Ich habe gestern abend beschlossen, es noch einmal in Harvard zu versuchen. Ich habe wieder einen Brief gefunden, der einen Hinweis auf dieses ominöse Beweismaterial enthält.«
»Viel Glück«, sagte Edward. »Und viel Spaß.« Er gab ihr einen Kuß und ging dann ins Labor zurück.
Auf dem Weg zum Cottage fühlte Kim sich von der geradezu überschwenglichen Liebenswürdigkeit der Wissenschaftler wie betäubt. Vielleicht stimmte etwas nicht mit ihr. Früher, als sie kühl und reserviert gewesen waren, hatte ihr das nicht gefallen, und jetzt stellte sie fest, daß sie mit ihrer Geselligkeit auch nichts anfangen konnte. War es so, daß man es ihr einfach nicht recht machen konnte?
Je länger Kim darüber nachdachte, um so bewußter wurde ihr, daß das mit der plötzlichen Gleichförmigkeit ihres Verhaltens zusammenhing. Als sie sie kennengelernt hatte, waren sie ihr sehr unterschiedlich erschienen, während jetzt ihre Persönlichkeiten zu einem liebenswürdigen, ausdruckslosen Ganzen verschmolzen waren, das ihre Individualität völlig verdeckte.
Während Kim sich für die Reise nach Boston umzog, mußte sie unaufhörlich über das Geschehen in dem Labor nachgrübeln. Sie spürte, wie ihr Unbehagen – jenes Gefühl der Beklemmung, das sie zu Alice getrieben hatte – wieder wuchs.
Sie ging in den Salon, um sich dort einen Pullover zu holen, und blieb kurz unter Elizabeths Portrait
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