Das Experiment
und Marsha wohnten nicht nur zusammen, sie arbeiteten auch auf der gleichen Station.
»Er ist ein Mistkerl«, sagte Marsha. Sie wußte besser als irgend jemand anders über Kims Beziehung zu Kinnard Bescheid.
»Laß dich von diesem blöden Egoisten bloß nicht verrückt machen!«
Marshas plötzliches Erscheinen brachte Kim vollends aus der Fassung. Sie begann hemmungslos zu weinen. »Ich hasse es zu streiten«, schluchzte sie.
»Ich finde, du hast dich diesmal hervorragend geschlagen.« Marsha reichte Kim ein Taschentuch.
»Er will sich nicht einmal entschuldigen«, jammerte Kim, während sie sich die Augen abtupfte.
»Er ist eben ein unsensibler Saukerl«, stellte Marsha fest.
»Ich weiß einfach nicht, was ich falsch gemacht habe«, sagte Kim. »Bis vor kurzem habe ich noch geglaubt, wir hätten eine gute Beziehung.«
»Du hast überhaupt nichts falsch gemacht«, versuchte Marsha sie zu trösten. »Wenn jemand etwas falsch macht, dann er. Er ist ein verdammter Egoist. Vergleiche ihn doch nur mal mit Edward. Der hat dir jeden Tag Blumen geschickt.«
»Ich verlange ja gar nicht, daß man mir jeden Tag Blumen schickt«, schluchzte Kim.
»Natürlich nicht«, sagte Marsha. »Aber er denkt an dich. Und das ist es, worauf es ankommt. Kinnard kümmert sich einen feuchten Kehricht um deine Gefühle. Du hast wirklich einen besseren Mann verdient.«
»Ich weiß es nicht«, murmelte Kim in ihr Taschentuch, während sie sich die Nase putzte. »Nur eines weiß ich genau. Ich muß etwas in meinem Leben ändern. Vielleicht ziehe ich nach Salem. Ich könnte dort ein altes Haus restaurieren, das sich schon seit einer Ewigkeit im Besitz meiner Familie befindet und das ich zusammen mit meinem Bruder geerbt habe.«
»Eine großartige Idee!« rief Marsha. »Ein Ortswechsel würde dir bestimmt guttun, vor allem wärst du dann weit weg von Kinnard.«
»Genau das habe ich auch gedacht«, erwiderte Kim. »Ich fahregleich nach der Arbeit rüber. Willst du nicht mitkommen? Vielleicht hast du ja auch ein paar gute Vorschläge, wie man das Haus wieder in Schuß bringen kann.«
»Wir müssen die Sache leider auf ein andermal verschieben«, sagte Marsha. »Ich bekomme gleich Besuch.«
Nachdem Kim alle Arbeiten erledigt und alle Berichte geschrieben hatte, verließ sie das Krankenhaus. Sie stieg in ihr Auto und fuhr stadtauswärts. Obwohl ziemlich viel Verkehr herrschte, kam sie zügig voran. Nachdem sie die Tobin Bridge überquert hatte, wurde es zusehends leerer auf den Straßen. Unterwegs legte sie einen Zwischenstopp bei dem Haus ihrer Eltern ein, die auf der Landenge von Marblehead wohnten.
»Hallo! Ist keiner zu Hause?« rief sie, als sie das Foyer des prächtigen Hauses betrat. Es war im Stil eines französischen Schlosses gebaut und bot einen herrlichen Blick aufs Meer. Es ähnelte ein bißchen der alten »Burg« in Salem, doch es war wesentlich kleiner und viel geschmackvoller eingerichtet.
»Ich bin im Atelier«, rief Joyce von oben.
Kim rannte die Haupttreppe hoch, durch den langen Korridor und betrat den auf drei Seiten verglasten Raum, in dem ihre Mutter sich die meiste Zeit aufhielt. Nach Süden hin blickte man hinaus in den Garten, und nach Osten hatte man einen atemberaubenden Blick auf den Ozean.
»Du hast dich ja noch gar nicht umgezogen«, stellte Joyce fest. Den mißbilligenden Ton in ihrer Stimme hörte Kim nicht zum ersten Mal.
»Ich komme direkt von der Arbeit«, entgegnete Kim. »Ich habe mich beeilt, um den schlimmsten Feierabendverkehr zu umgehen.«
»Hoffentlich trägst du mir keine Bazillen hier herein«, nörgelte Joyce. »Noch eine Krankheit wäre wirklich das letzte, was ich im Moment gebrauchen könnte.«
»Meine Patienten haben keine ansteckenden Krankheiten«, erklärte Kim. »Auf meiner Station schwirren wahrscheinlich weniger Bazillen herum als in diesem Raum.«
»Erzähl mir doch nichts«, raunzte Joyce.
Die beiden Frauen sahen sich kein bißchen ähnlich. Sowohl ihre Gesichtszüge als auch ihre Haare hatte Kim von ihrem Vater geerbt. Joyce hatte ein breites Gesicht, tiefliegende Augenund eine leicht gebogene Nase. Ihre Haare waren einmal braun gewesen, doch inzwischen waren sie längst ergraut, und sie hatte sie nie färben lassen. Obwohl der Hochsommer vor der Tür stand, war sie bleich wie der Tod.
»Du bist ja noch im Morgenrock«, stellte Kim fest und ließ sich ihrer Mutter gegenüber in einen Sessel sinken.
»Ich hatte keinen Grund, mich anzuziehen«, entgegnete Joyce.
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