Das Feuer bringt den Tod: Thriller (German Edition)
Baum gesetzt, die Arme um die Knie geschlungen und an den Moment gedacht, in dem sie ihren Vater zum letzten Mal gesehen hatte. Sie hatte schon geschlafen, doch sie war aufgewacht, weil Licht vom Flur in ihr Zimmer fiel. Sonst hatte ihr Vater die Tür immer schnell wieder zugezogen, wenn er sie versehentlich weckte, aber dieses Mal nicht. Er war stehen geblieben – ein Schatten, vor dem sie sich nicht fürchtete, weil sie sich vor ihm nie zu fürchten brauchte –, bis sie wieder eingeschlafen war. In diesem Augenblick – unter dem Baum mit der Narbe – begriff sie etwas: Er war so lange stehen geblieben, weil er ahnte, dass er sterben würde. Es war nicht einfach ein Unglück gewesen, auch wenn sie nicht ausschließen konnte, dass sie einer Art morbid-romantischem Wunschdenken nachhing. So etwas wie »Zu allem entschlossene Tochter klärt nach Jahrzehnten den vertuschten Mord an ihrem Vater auf«. Dennoch half es ihr, über die Momente hinwegzukommen, in denen sie ihren Vater vermisste, und das war es, was für sie zählte.
Sie versuchte, sich das Gesicht ihres Vaters ins Gedächtnis zu rufen, doch es war am Ende das Gesicht ihres Onkels, das sie vor Augen hatte, als sie zurück in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
10
Als Lukas Möhrs sich aufmachte, die ersten Ergebnisse der Obduktion von Frieder Jakobs in Erfahrung zu bringen, wurden in seinem Gedächtnis zwei Lektionen fürs Leben aufgefrischt. Die erste lautete: Auch an Orten, die harmlos erschienen, konnten die verstörendsten Dinge vor sich gehen. Das Institut für Rechtskunde der Universitätsklinik Lübeck war so ein Ort: Von außen erinnerte der rote Klinkerbau mit seinem Rundbogen über dem Eingangsportal an eine alte Dorfschule. Drinnen jedoch schnitten emsige Doktoren Leichen auf und unterzogen sie aufwendigen Untersuchungen, um festzustellen, auf welche Weise Gevatter Tod seine Ernte eingefahren hatte. Dass noch dazu überall der typische Klinikgeruch nach feuchten Linoleumböden und Desinfektionsmittel festsaß, sorgte nicht zwingend für eine entspannte Atmosphäre, wenn man ein Mann wie Möhrs war. Ende dreißig, mindestens zwanzig Kilo zu viel auf den Rippen, ungesunde Ernährungsweise, stressiger Job, reumütiger Gelegenheitsraucher, eine Mutter mit Herzklappeninsuffizienz: kurzum, ein wandelnder Countdown zum ersten Infarkt.
Die zweite Lektion war nicht weniger ernüchternd: Man merkte, dass man alt wurde, wenn man Leute, mit denen man zum ersten Mal zusammenarbeitete, plötzlich für noch viel zu jung und nicht kompetent genug hielt. Aysel Özen war so eine Person: Sie war gut zehn Jahre jünger als Möhrs, aber ein echtes Talent in Sachen Rechtsmedizin – schnell,gründlich und dabei doch immer bereit, sich nicht auf den ersten Eindruck zu verlassen. Dass sie aus für ihn völlig unerfindlichen Gründen einen Narren an ihm gefressen hatte, machte seine Besuche bei ihr nicht unkomplizierter. Trotz eines klärenden Gesprächs im letzten Herbst, bei dem er ihr in einer schummerigen Ecke der Lübecker Schiffergesellschaft über einem Glas Rotwein sehr genau erklärt hatte, warum aus ihnen beiden nie etwas werden würde. Es lag nicht an ihr, es lag an ihm. Sie hatte die Keckheit besessen, ihn für diese Plattitüde auszulachen.
Sie überraschte ihn heute allerdings damit, dass sie ohne Umschweife zur Sache kam. Ein Küsschen links, ein Küsschen rechts, dann setzte sie ihr Dozentinnengesicht auf, wie er sich ausdrückte: die tadellos in Form gezupften Brauen zusammengekniffen, das Kinn samt Grübchen nach vorn gereckt, die dunklen Lippen vornehm gespitzt.
Wie immer hatte sie in ihrem kleinen Büro, das sie sich mit einem ihrer Kollegen teilte, sämtliche Unterlagen und Akten zum laufenden Fall in säuberlich geordneten Reihen auf ihrem Schreibtisch ausgelegt. Möhrs hatte sich angewöhnt, tunlichst nur dorthin zu schauen, wo sie jeweils gerade ihre rechte Hand platziert hatte. Alles andere lenkte ihn erfahrungsgemäß zu schnell ab.
»Eine Sache ist absolut eindeutig«, begann sie mit ihren Ausführungen. »Aus meiner persönlichen Sicht kann kein Zweifel daran bestehen, dass er noch am Leben war, als der Brand ausbrach.«
»Kein Zweifel?«
»Rauchspuren in der Lunge.« Ihre Hand huschte von einer Aufnahme mit einer stark vergrößerten Gewebeprobe zur nächsten. »Rußpartikel im Magen. So viele, dass davon auszugehen ist, dass er nicht nur noch gelebt hat. Er muss geschrien haben.«
»Er war bei vollem Bewusstsein.« Möhrs
Weitere Kostenlose Bücher