Das Feuer der Wüste
ihren Ritualen, ihren Geschichten und Mythen. Dass der Stein die Seele der Nama beinhaltet, ist eine Legende, die ein Stammeshäuptling in die Welt gesetzt hat, um die Unruhen unter seinen Leuten zu unterbinden. Er hat ihnen mit der Macht des Steines gedroht. Die wahren Götter der Nama sind jedoch andere. Es ist schon lange an der Zeit, mit diesem bösen Märchen und all dem Aberglauben aufzuhören. Die Nama haben inzwischen gelernt, dass sie keinen Stein brauchen, der ihre Seele hütet. Sie tragen ihre Seele in der Brust.
Ich habe nicht ohne das Wissen und das Einverständnis der Nama gehandelt, sondern mit ihnen zusammen. Der Häuptling und sein Sohn haben mich auf das Meer hinausgerudert. Es war auch ihr Wille, dass der Stein an einem Ort ruht, wo niemand mehr um seinetwillen Blut vergießen wird.«
»Dann wissen also auch die Nama, bei denen du lebst, wo der Stein ist?«, fragte Ruth weiter.
Margaret Salden schüttelte den Kopf. »Das Meer ist groß und weit. Niemand weiß mehr, wo genau das ›Feuer der Wüste‹ sich befindet. Das Wasser des Meeres hat das Feuer gelöscht.«
Ruth lachte leise.
»Was ist, mein Kind?«
»Ich bin glücklich«, flüsterte Ruth. »Es ist verrückt, doch obwohl ich hier mit dir in einer Höhle gefangen bin, bin ich auf einmal glücklich. Und weißt du auch, warum? Weil du nichts Schlimmes getan hast. Du hast das Beste gewollt und in diesem Wissen gehandelt. Das Beste für die Schwarzen und die Weißen. Und du hast nicht gegen die Schwarzen gehandelt, sondern mit ihnen.« Ruth schüttelte den Kopf, lachte über sich selbst.
»Trotzdem habe ich vieles falsch gemacht«, erwiderte Margaret Salden. »Sonst wären wir nicht hier.«
»Psst!«, flüsterte Ruth und tastete nach dem Unterarm ihrer Großmutter. »Ich habe etwas gehört. Und einen Lichtschein habe ich auch gesehen.«
»Ach was«, beschwichtigte die alte Frau. »Du wirst müde sein. Wir sollten schlafen, unsere Kräfte sammeln. Wir werden sie dringend brauchen, wenn Kramer zurückkommt.«
Achtzehntes Kapitel
D ie Nacht war furchtbar kalt. Feuchtigkeit kroch in Ruths Kleider und von dort ihren Körper hoch, ließ ihre Knochen erstarren.
Margaret klapperte mit den Zähnen. Ruth konnte deutlich spüren, dass die alte Frau vor Kälte zitterte. Am liebsten hätte Ruth sie in den Arm genommen und mit ihrem Leib gewärmt, doch die Stricke hinderten sie daran, sich von ihrem Platz auch nur wenige Zentimeter wegzubewegen. Stundenlang hatte Ruth vergeblich versucht, sich von den Handfesseln zu befreien. Sie hatte an ihnen gezerrt, hatte einen Stein ertastet, gegen den sie die Fesseln reiben konnte, doch alles, was sie dabei zerstört hatte, war die Haut ihrer Handgelenke gewesen. Nun schmerzten ihre Hände, und neben ihr fror die alte Frau erbärmlich, lag wie sie selbst hilflos auf dem Boden, unfähig, irgendetwas zu tun.
Ruth stiegen die Tränen in die Augen. Und obwohl sie fest entschlossen war, tapfer zu sein, keine Schwäche zu zeigen, konnte sie ein Schluchzen nicht unterdrücken.
»Nicht weinen, Kind«, sagte ihre Großmutter leise. »Tränen kosten Kraft. Spar sie dir auf. Der richtige Zeitpunkt zum Weinen wird erst noch kommen. Jetzt aber sollten wir singen.«
»Was?«, fragte Ruth fassungslos. Hatte ihre Großmutter vor Kälte womöglich den Verstand verloren? »Wie bitte? Wir sollten singen? Verzeih, aber danach ist mir wirklich nicht.«
»Probier es aus, mein Kind. Du wirst sehen, es hilft dir.« Und schon stimmte Margaret mit brüchiger Altfrauenstimme ein Lied an, das Ruth noch nie gehört hatte. Es war ein deutsches Lied, schwermütig und dunkel. Es handelte von einer Frau auf einem Felsen, die ihr Haar kämmte und damit die Fischer in den Tod lockte.
Als Margaret danach ein Lied sang, das Ruth kannte, schmetterte diese so laut sie konnte mit, um ihrer Großmutter eine kleine Freude zu machen: »Die Gedanken sihind frei, wer kann sie erraten, sie fliegen vohorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie hören … Ich denke, was ich will und was mich erquicket …«
Und Ruth merkte, wie ihr leichter wurde, wie ihr Wille, ihre Kraft zurückkamen.
Als Ruth und Margaret irgendwann wieder aufwachten, war es in der Grotte immer noch so dunkel, dass sie nicht sagen konnten, ob es noch Nacht war oder ob draußen bereits die Sonne schien.
»Wie geht es dir?«, fragte Ruth.
»Es geht mir gut, mein Kind. Mach dir keine Sorgen. Alles kommt wieder in Ordnung.«
Dann schwiegen sie. Ruth hatte Durst. Obwohl
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