Das Feuer der Wüste
ließ den Mann stehen, holte ihr Pferd Hunter aus dem Stall, schwang sich auf und ritt über die Weiden davon. Was für ein Tag! Beim Anblick ihrer grasenden Herde musste Ruth an Nath denken – und an seinen Sieg beim Schafstemmwettbewerb. Fünfzig Kilo hatte er geschafft. Mehr nicht? Für einen ausgewachsenen Mann war das wirklich keine beeindruckende Leistung. Jeder ihrer schwarzen Angestellten könnte ohne ein Wimpernzucken mehr Kilos in die Höhe stemmen.
Ruth sah sich kurz nach allen Seiten um, doch nirgends war auch nur eine Menschenseele zu sehen. Kurz entschlossen stieg sie ab, ging mitten in die Herde hinein und suchte ein Schaf, das in etwa dasselbe Gewicht wie Naths Wettbewerbsschaf hatte. Hah! Dem werd ich zeigen, wer hier der stärkste Farmer ist! Sie zwang das Tier auf den Rücken, band ihm mit einem Strick aus einer ihrer zahlreichen Hosentaschen die Vorder- und Hinterbeine zusammen. Dann ging sie in die Hocke, packte das Tier unter dem Bauch und stemmte es in die Höhe. Auch wenn das Schaf blökte und zappelte, um sich zu befreien, gelang es Ruth, es bis zur Schulter hochzuhieven. Erst dann gab sie stöhnend auf.
Sie ließ das Schaf hinab, atmete kräftig aus, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte missmutig auf das blökende Tier vor sich. »Früher war ich besser«, murmelte sie unwillig. »Früher hätte ich dich mit einem Ruck hochgebracht. Ich bin wohl ein bisschen aus der Übung.«
Kaum hatte sie die Fesseln gelöst, sprang das Schaf auf und rannte davon, so schnell es konnte. Ruth sah ihm nach. Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, es nach einer kleinen Ruhepause noch einmal zu versuchen, doch dann entschied sie sich doch dagegen. In ein paar Tagen, nach dem Scheren, bin ich wieder fit. Und dann werden wir ja sehen, wer hier der Beste ist!
Es war bereits Mittag, als Ruth verschwitzt und verdreckt zum Farmhaus zurückkam. Sie füllte Klettes Fressnapf mit gekochten Lammfleischstücken, dann zog sie die Stiefel aus, wusch sich die Hände und betrat durch einen Seiteneingang die Küche.
Ihre Mutter saß am Tisch, vor sich eine Tasse Kaffee, und Mama Elo war gerade dabei, ein paar Sandwiches zuzubereiten.
»Hey«, grüßte Ruth, nahm sich ein Glas, füllte es direkt aus dem Hahn mit Wasser und trank es in einem Zug leer. Dann hob sie die Hand, um sich mit dem Rücken über den Mund zu wischen, doch als sie den Blick ihrer Mutter sah, seufzte sie und griff nach einem Küchentuch.
»Na?«, fragte sie dann. »Hast du gut geschlafen?«
Rose nickte. Ihre Haut war blass, ihre Augen umkränzten dunkle Ringe. »Geschlafen habe ich, von gut kann allerdings keine Rede sein.«
»Vielleicht hättest du gestern nicht so viel Sekt trinken sollen.« Ruth hatte einen Scherz machen wollen, doch Rose kniff die Lippen zusammen.
»Ich habe mehr im Kopf, als Sekt zu trinken«, erwiderte sie scharf.
Auch wenn es ihr den größten Teil des Vormittags gelungen war, die dunkle Vorahnung beiseitezuschieben, hatte Ruth auf einmal wieder einen Kloß im Hals, und ihr Herz schlug schneller. Sie nahm sich eine Scheibe der Lammsalami, handelte sich dafür von Mama Elo einen liebevollen Klaps auf die Hand ein, und setzte sich an den Tisch. Erst jetzt, da sie ihrer Mutter direkt gegenübersaß, fiel Ruth auf, dass Rose nicht nur blass und unausgeschlafen aussah, sondern überdies bedrückt wirkte. »Was ist los, Mam? Fühlst du dich nicht wohl?«
Als Rose die Augen hob, war ihr Blick leer und öde wie die Skelettwüste.
»Was ist los?«, drängte Ruth.
Rose seufzte, griff nach Ruths Hand und drückte sie. »Komm später in mein Büro. Wir müssen uns unterhalten«, sagte sie. Dann stand sie abrupt auf und ging mit ungewohnt schweren Schritten hinaus.
Ruth sah ihr nach. »Wisst ihr etwas, das ich wissen sollte?«, fragte sie.
Mama Elo sah sie bedrückt an. »Schwer hat sie es, noch schwerer als bisher. Ich wünschte, Rose wäre einmal in ihrem Leben von ganzem Herzen glücklich.«
Ruth schluckte, als sie sah, dass Mama Elo eine Träne über die Wange lief. Jetzt bezweifelte sie nicht mehr, dass die Männer gestern die Wahrheit gesprochen hatten. Die Farm steckte in der Klemme.
Erst am nächsten Tag fand Ruth eine Gelegenheit, mit ihrer Mutter zu sprechen. Gleich nach dem Frühstück klopfte sie an die Tür des Büros und trat ein. Ihre Mutter saß hinter dem Schreibtisch, und Ruth schien es, als wäre sie noch blasser und zierlicher als sonst. Vor ihr türmten sich Hefter, Aktenordner und
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