Das fünfte Paar
Raum wandern und versuchte mir vorzustellen, wie es hier spätabends zugehen mochte. Agenten im Training leben wie Mönche. Damenbesuche, Alkohol und Zigaretten sind in den Wohnheimen nicht gestattet - die Zimmer kann man nicht abschließen -, aber im Boardroom werden Wein und Bier ausgeschenkt. Streitigkeiten, Tratsch - alles spielte sich hier ab. Ich erinnerte mich, daß Mark mir einmal erzählt hatte, wie er eines Abends eine allgemeine Rauferei ausgelöst hatte, als ein FBI Agent aus lauter Übereifer ein paar DEA-Veteranen »festnehmen« wollte, die an einem der Tische saßen. Tische waren umgeworfen worden, Biergläser und Popcorn durch die Luft geflogen. Die beiden Männer kamen zurück. Wesley stellte seine Tasse hin, streifte sein perlgraues Jackett ab und hängte es ordentlich über die Rückenlehne seines Stuhls. Sein weißes Hemd war fast faltenfrei, die pfauenblaue Krawatte zierten winzige Lilien, und er trug pfauenblaue Hosenträger. Marino bildete einen krassen Kontrast zu seinem Modejournal-Gegenüber. Mit seinem dicken Bauch hätte er selbst den elegantesten Anzug wie einen Sack aussehen lassen - doch man mußte seinen guten Willen anerkennen: Neuerdings bemühte er sich wirklich um ein gepflegtes Äußeres. Wesley notierte sich etwas, Marino blätterte eine Akte durch
Sie schienen mich völlig vergessen zu haben. »Was wissen Sie über Spurriers Vergangenheit?« fragte ich.
Benton blickte auf. »Keine Vorstrafen. Er ist nie festgenommen worden, hat in den letzten zehn Jahren nicht einmal einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung bekommen. Den Lincoln hat er im Februar 1990 bei einem Händler in Virginia Beach gekauft, einen Sechsundachtziger Town Car in Zahlung gegeben und den Rest bar bezahlt.«
»Der muß ja Kohle haben., sagte Marino. »Fährt teure Schlitten, wohnt in einem tollen Haus... Schwer zu glauben, daß seine kleine Buchhandlung so viel abwirft.«
»Tut sie auch nicht«, antwortete Benton. »Laut seiner Einkommensteuererklärung vom letzten Jahr hat er weniger als dreißigtausend eingenommen. Aber er hat über eine halbe Million Vermögen, ein Börsenkonto, ein Haus am Meer und Aktien.« »Mannomann!« Marino schüttelte den Kopf. »Gibt es irgendwelche Angehörige, die er unterstützen muß?« fragte ich.
»Nein«, erwiderte Wesley. »Er war nie verheiratet, die Eltern sind tot. Der Vater war ein sehr erfolgreicher Maklerin Northern Neck. Er starb, als Steven Anfang zwanzig war. Ich vernute, daher stammt das Geld.«
»Was ist mit der Mutter?«
»Sie starb etwa ein Jahr nach ihrem Mann - an Krebs. Steven war ein Nachzügler: Bei seiner Geburt war sie schon zweiundvierzig. Er hat einen Bruder namens Gordon. Er ist fünfzehn Jahre älter, lebt in Texas, ist verheiratet und hat vier Kinder.«
Wesley zog seine Aufzeichnungen zu Rate. Spurrier war in Gloucester geboren worden, hatte die Universität von Virginia besucht, war mit einem Bakkalaureus in Englisch abgegangen.
Danach trat er in die Navy ein, wo er nur vier Monate blieb. Die folgenden elf Monate arbeitete er in einer Druckerei, wo seine Hauptaufgabe darin bestand, die Maschinen zu warten.
»Ich würde gern mehr über seine Zeit bei der Navy erfahren«, hakte Marino nach.
»Da gibt es nicht viel«, erklärte Wesley. »Nach seiner Einstellung wurde er zur Grundausbildung nach San Diego geschickt. Er wählte als Hauptfach Journalismus und wurde der Defense Information School in Fort Benjamin, Indianapolis, zugeteilt. Später kommandierte man ihn zum Dienst beim Supreme Allied Commander ab.« Wesley blickte von seinen Notizen auf. »Etwa einen Monat später starb sein Vater, und Steven wurde dienstentlassen, um sich in Gloucester um seine Mutter kümmern zu können, die bereits an Krebs litt.«
»Warum tat der Bruder das denn nicht?« wollte Marino wissen.
»Der konnte offenbar aus beruflichen und familiären Gründen nicht aus Texas weg.« Benton sah uns beide an. »Vielleicht gab es aber auch andere Gründe. Stevens Verhältnis zu seinen Eltern interessiert mich sehr - aber ich habe beschlossen, mich mit den diesbezüglichen Nachforschungen noch eine Weile zu gedulden.«
»Und warum?«
»Es ist zu riskant, zum gegenwärtigen Zeitpunkt an den Bruder heranzutreten: Ich möchte unter keinen Umständen, daß er Steven anruft und ihm davon erzählt! Außerdem habe ich ohnehin nicht viel Hoffnung, daß er mit uns kooperieren würde: In Fällen wie diesem halten Familienmitglieder meist zusammen wie Pech und
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