Das gefrorene Lachen
Weidenbäume, deren Anblick sie aufmunterte: Sie kannte diesen Ort, das Theater konnte nun nicht mehr weit sein.
Der Pfad machte einen scharfen Knick an einem dichten Gebüsch vorbei. Hinter der Biegung konnteman zwischen zwei niedrigen Häusern hindurch schon die bunten Fahnen des Theaters sehen, den Geruch des Zuckerzeugs riechen und Musik und Kinderstimmen hören. Pippa zwang ihre müden Füße zu einem schnelleren Schritt. Wie gerne hätte ich ein Butterbrot, dachte sie sehnsüchtig. Aber erst musste sie nach August schauen.
Dann war sie am Gebüsch vorbei und sah, dass irgendetwas nicht stimmte. Wo waren die Fahnen? Warum konnte sie das Bühnenhaus nicht sehen? Und warum war es so totenstill? Die Nachmittagsvorstellung war gerade zu Ende gegangen, es hätte fröhlicher Stimmenlärm über dem Platz liegen müssen, laute Musik und der Beifall, der den Artisten auf dem Vorplatz galt.
Pippa begann zu rennen.
Der verwüstete Platz lag stumm unter dem trübschwefligen Licht des Gewitterhimmels. Pippa ging fassungslos und ungläubig über das Trümmerfeld und hob hier eine zerbrochene Keule, dort ein in den Boden getrampeltes Kostümteil auf. Sie stand da, mit hängenden Armen und leerem Kopf, drehte sich langsam im Kreis und nahm das Ausmaß der Zerstörung in sich auf. Wo waren die anderen? Warum kümmerte sich niemand um das niedergerissene Theater? Wieso löschte keiner den in Flammen stehenden Küchenwagen? Wo waren sie alle?
Die Keule fiel aus ihren erschlaffenden Fingern. Pippa sank langsam in die Knie. Ein Jammerlaut kam über ihre Lippen, den sie ebenso erstaunt und teilnahmslos beobachtete wie das, was von ihrer Heimat übrig geblieben war.
Es blitzte und wenig später grollte Donner wie eine angreifende Bestie über den Platz. Ein Windstoß wirbelte zerrissene Papier- und Stoffreste auf, deren ursprüngliche Herkunft nicht mehr zu erkennen war.
Papierfetzen fingen sich an Pippas Füßen. Das aufgemalte Grinsen eines Clowns schaute sie an, ein abgerissener Titel »... von Venezia«. Ein hauchzartes, kleines Zettelchen wie ein toter Schmetterling hatte sich zwischen ihnen gefangen. Eins der Gedichte, die Zarter Blütenzauber ihr geschrieben hatte.
Pippa bückte sich danach. Eine Träne lief kitzelnd über ihre Wange und tropfte an der Nase hinab.
Ein zweiter Blitz, noch lauterer, noch näherer Donner. Regentropfen klatschten auf den zertrampelten Grund.
Pippa klaubte das Gedicht auf und löste sich aus ihrer Erstarrung. Sie steckte das Zettelchen ein und rannte hinüber zu einem der Wagen, die noch halbwegs unzerstört zwischen den anderen standen. Hans wohnte hier, dachte sie und klopfte an. Einen Atemzug lang flackerte Hoffnung in ihr auf – regte sich etwas in dem Wagen? Waren das Schritte?
Eine heftige Sturmböe blies sie fast von der Stufe. Sie schalt sich für ihr Zaudern und drückte die Tür auf, ließ sich vom Sturm in den Wagen schieben, musste sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür werfen, um sie zu schließen.
Pippa sank hinter der Tür auf den Boden und legte das Gesicht in die Hände. Das war ein böser Traum. Sie träumte manchmal solche bösen, zerstörerischen Träume, aber wenn sie die Augen wieder aufschlug, würde siein ihrer Hängematte liegen und den vertrauten Geräuschen des Theaterbetriebes auf dem Platz lauschen.
Sie hielt den Atem an. Kniff die Augen fest zusammen und legte die Hände auf die Ohren. Stellte sich vor, wie dort draußen die Abendvorstellung begann, die Fackeln brannten, Musik spielte, Zarter Blütenzauber Hufeisen und Schürhaken verbog … Sie schauderte und riss die Augen auf. Der Schürhaken hatte ein Loch in die Wand geschlagen, dass der Putz auf den Boden fiel.
Es war still bis auf das stetige Rauschen des Regens, das Heulen des Winds, das Grollen des Gewitters. Sie hockte in einem fremden Wagen hinter der Tür und zitterte.
Beim nächsten Blitz, der zuckende Schatten in das Innere des Wagens schickte, stand sie auf und suchte nach einer Lampe. Sie fand eine Kerze, entzündete sie mit einem gemurmelten Wort und setzte sich in einen durchgewetzten Sessel. Das Zettelchen mit dem Gedicht knisterte in ihrer Tasche, sie zog es hervor und schaute mit tränenverschleierten Augen auf die feinen Schriftzüge.
Blicke ins Auge des Sturms
suche das Versteck des Windes
finde das Herz des Bösen
las sie, ohne es zu verstehen. Das war eines der Gedichte, die keiner von ihnen hatte einordnen können. Sie runzelte die Stirn, mit einem Mal abgelenkt.
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