Das gefrorene Lachen
Schlüssel.
Während er zur Tür ging und sie aufsperrte, beugte sich Pippa zu August und flüsterte: »Sei nicht so zornig. Er macht sich nicht lustig über dich. Er glaubt das alles wirklich!«
»Prinz«, schnaubte August unterdrückt. »Königliche Hoheit. Mein Vater ein König! Das sind doch Hirngespinste und Spinnereien!«
Pippa zögerte, ihm beizupflichten. »Wir müssen über alles nachdenken, was er uns erzählt hat. Und vielleicht sollten wir uns mit ihm noch einmal treffen. Um ihm die Gedichte zu zeigen. Er hat ein paar Sachen gesagt, die mich sehr nachdenklich stimmen.«
Der Lehrer hatte ein paar Schritte vor die Tür getan und kam jetzt zurück. »Ihr könnt mir folgen«, sagte er atemlos. »Draußen ist niemand, der uns auflauert.« Er hielt ihnen die Tür auf und schloss sie sorgsam wieder zu, als die beiden ins Freie getreten waren. Ein scharfer Wind pfiff um die Hausecke und über den kleinen, schmutzigen Hof, in dem sie standen. Pippa zog die Jacke enger um die Schultern. »Hu«, sagte sie. »Was für ein kalter Wind.«
»Ostwind«, sagte der Lehrer leise. Er deutete zum Hoftor.
Sie folgten ihm schweigend. Ihre Schritte hallten laut auf dem nass glänzenden Pflaster. Die Häuser warfen Schatten, in denen sich finstere Gestalten zu verbergen schienen, die Gaslaternen ragten dunkel und kalt in die Luft.
Pippa blickte zu dem schmalen Streifen Himmel auf, der zwischen den Dächern der schmalen Gasse hervorschaute. Kein Stern war zu sehen, nur Dunkelheit und noch tiefere Dunkelheit, wo sturmzerrissene Wolken über den Himmel jagten. Sie schauderte und spürte Augusts tröstliche Gegenwart an ihrer Seite wie ein wärmendes Holzfeuer.
Der Lehrer eilte ihnen stumm voraus. Seine Kopfbewegungen, seine hastigen, schlurfenden Schritte, seine ängstlich gebeugten Schultern zeigten deutlich die Angst, die den alten Mann gepackt hatte.
Sie überquerten einen kleinen Platz, auf dem der Sturmwind ihnen mit ungebremster Kraft um die Ohren pfiff und an den Kleidern riss. Der Lehrer schwankte und wäre beinahe gestürzt. Pippa klammerte sich fester an Augusts Arm und rief: »Wir sollten den alten Herrn stützen!« Aber der Wind riss die Worte von ihren Lippen und trug sie wie Papierschnipsel davon ins Dunkle.
August hatte aber wohl Ähnliches gedacht, denn er beschleunigte seine Schritte, und er und Pippa nahmen den Lehrer in ihre Mitte. Er hängte sich dankbar in den dargebotenen Arm des jungen Mannes ein. Pippa sah, dass er schwer atmete und vor Anstrengung grau im Gesicht war. »Können wir nicht irgendwo unterschlüpfen, bis der Sturm vorübergezogen ist?«, rief sie.
Der Lehrer schüttelte den Kopf. »Niemals vorbei«, keuchte er. »Sperrstunde.«
Ohne seine Worte zu erläutern, drängte er Pippa und August weiterzulaufen. Jetzt, wo sie ihn in ihrer Mitte hatten und beinahe trugen, flog das Pflaster unter ihren Füßen vorbei, als berührten sie es kaum.
Sie tauchten in die nächste kleine Gasse und der Sturm erstarb wieder zu einem unangenehm kalten, aber nicht mehr ganz so angriffslustigen Wind.
Sie lehnten sich für einen kurzen Augenblick an eine Hauswand und schöpften Atem. »Das ist immer so?«, fragte Pippa.
Der Lehrer nickte. »Seit der Ostwind das Land regiert, tobt jeden Abend und jede Nacht bis zum Sonnenaufgang ein eisiger Sturm. Es ist ja ohnehin verboten, aber auch wenn es das nicht wäre, würde wohl niemand freiwillig nach der Sperrstunde sein Haus verlassen.« Er richtete sich wieder auf und zeigte auf ihren Weg, der leicht anstieg. »Am Ende der Gasse steht mein Haus. Werdet ihr es wiederfinden?«
Pippa schüttelte den Kopf. Sie hatte schon kurz vor der Überquerung des kleinen Platzes jegliche Orientierung verloren.
»Ja, kein Problem«, erklärte August zu ihrer Überraschung. »Wenn man hier weitergeht, kommt man hinten an der alten Mühle heraus, richtig?«
»Vollkommen richtig erkannt, Hoh... mein Junge.« Der Lehrer zog an Pippas Arm. »Bitte, gehen wir weiter. Die Gendarmen patrouillieren überall, sie dürfen uns nicht auf der Straße antreffen.«
Sie eilten weiter. Das unebene, schadhafte Pflaster brachte sie immer wieder zum Stolpern. In keinem der Häuser brannte Licht, die meisten hatten die Läden fest verschlossen. »Wie unheimlich es hier ist«, flüsterte Pippa. »Ich habe mir die Residenz immer voller Licht und Leben vorgestellt.«
»Das war sie auch«, erwiderte der alte Mann traurig. »Voller Licht und Leben, ja, das war sie in der guten alten
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