Das geheime Leben der CeeCee Wilkes
Um genau zu sein, drückte er jetzt ihre Finger und strich mit einem Daumen über ihre Knöchel. Ihr Puls hämmerte unter seinen Fingerspitzen.
“Nun”, antwortete sie. “Ich wurde an diesen Ort gebracht … eigentlich weiß ich bis heute nicht, was für ein Ort das war … eine Art Kinderheim eben.”
“Eine Wohneinrichtung.”
Sie lächelte. “Ja, Herr Sozialarbeiter.”
“Erzähl weiter.”
“Dort blieb ich eine Weile, während man versuchte, meinen Vater zu finden. Meine Eltern waren nicht verheiratet, ich habe ihn nie kennengelernt. Was wohl auch besser war, denn wie sich herausstellte, saß er im Knast, weil er Kinder belästigt hatte.”
“War dann wohl wirklich besser so.” Tim nickte. “Das muss für dich eine riesige Enttäuschung ge…”
Genau in diesem Moment tauchte Bets mit ihrem Essen auf und Tim musste CeeCees Hand freigeben.
“Bitte schön, Honey”, sagte Bets zu CeeCee, als sie die Limonentorte vor sie stellte. “Möchtest du Extrasoße, Timmy?”
Timmy? CeeCee zuckte zusammen. Wie gut kannte Bets ihn?
“Nein danke”, sagte Tim.
“Okay.” Bets ging zu einem anderen Tisch, rief aber noch über die Schulter: “Lasst es euch schmecken.”
Tim schob seinen Teller in CeeCees Richtung. “Möchtest du mal probieren?”
Sie schüttelte den Kopf. “Sieht aber gut aus.” Wieder spielte sie mit dem Strohhalmpapierchen, während er in sein Sandwich biss.
“Was geschah als sie deinen Vater gefunden hatten?”, fragte er nach dem ersten Bissen.
“Er steckte mich in eine Pflegefamilie.”
“Aha. Dann hast du ja doch schon so einige Erfahrung mit Sozialarbeitern.”
“Jede Menge.” Sie zog die Gabel über die glatte, blasse Glasur ihrer Torte. “Ich war in sechs verschiedenen Familien. Nicht, weil ich Probleme machte”, fügte sie hinzu. “Die Umstände waren einfach etwas schwierig.”
Er nickte. Er verstand.
“Die letzte war die beste. Eine alleinerziehende Mutter mit ein paar kleinen, wirklich süßen Kindern. Kaum hatte ich die Schule beendet, war ich aber auf mich selbst gestellt.”
“Du hast viel durchgemacht.” Er trank einen Schluck Wasser.
“Es war nicht so schlimm. Ich habe viele Menschen kennengelernt. Und man kann von jedem, den man trifft, irgendetwas lernen.”
“Das ist sehr weise.”
“Hey, Gleason!”
CeeCee drehte sich um und sah, wie einer der Sportstudenten auf ihren Tisch zusteuerte. Er war schwarz, sehr attraktiv und bestimmt zwei Meter groß. Sie hatte ihn schon gelegentlich gesehen, meistens trug er einen Basketball mit sich herum. Manchmal konnte sie schon hören, wie er mit dem Ball dribbelte, bevor sie ihn sah.
“Hey, Wally, wie sieht’s aus bei dir?” Tim stellte sein Glas ab und ließ zur Begrüßung seine Handfläche lässig über Wallys gleiten.
Wally schüttelte empört den Kopf. “Weißt du noch, die Braut letzte Nacht? Die hat mir übel mitgespielt, Mann.”
Tim lachte. “Was du nicht sagst.”
“Hängst du später im Cave ab?”
“Heute nicht.” Tim nickte in CeeCees Richtung. “Das ist CeeCee”, stellte er sie vor.
CeeCee hob ihre Hand. “Hallo”, sagte sie.
“Du hast ja wahnsinniges Haar.” Wally schien sichtlich beeindruckt von dieser Pracht.
“Danke.”
“Na dann, Chef. Wir seh’n uns später.”
Sie sahen Wally nach, wie er davonging und dabei einen unsichtbaren Basketball hüpfen ließ.
“Kennst du eigentlich
jeden
in Chapel Hill?”, fragte sie.
Tim lachte. “Ich lebe hier schon ziemlich lange.” Er nahm sein Sandwich wieder in die Hand. “Jetzt musst du aber mal eine Weile reden, damit ich einen kräftigen Bissen von diesem Ding hier nehmen kann. Erzähl mir von deiner Mutter. Wart ihr euch sehr nahe?”
Er war in der Tat ein richtiger Sozialarbeiter, hatte keine Hemmungen, Fragen zu stellen. “Na ja.” Wieder fuhr sie mit der Gabel über die Glasur und bewunderte gedankenverloren das entstandene Gittermuster. “Meine Mutter war eine erstaunliche Person. Sie wusste, dass sie sterben würde, und tat ihr Bestes, um mich darauf vorzubereiten, obwohl man auf so etwas natürlich nie vorbereitet sein kann. Aber ich schätze, das weißt du selbst am besten.”
Er nickte kauend und mit ernstem Gesicht.
“Anfangs war sie richtig wütend.” CeeCee dachte daran, wie ihre Mutter sie bei der geringsten Gelegenheit angefahren hatte. “Und dann, nun, dann wechselten ihre Stimmungen hin und her zwischen Wut und Verzweiflung. Und danach wurde sie sehr ruhig.” Sie betrachtete ihre
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