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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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wir nichts sind als nur unsere sterbliche Hülle?«
    Es rührte Charpentier, dass Dr. Evans Newton noch mit seinen letzten Worten ehrte, obwohl er seinetwegen in diese Lage geraten war.
    »Das ist auch der Grund für meinen Besuch«, erklärte Charpentier. »Auch ich glaube, dass die Antworten, die Euer Meister sucht, unsere völlige Hingabe verdienen. Ihr sollt wissen, dass Euer Ableben nicht vergebens sein wird.«
    Ihm wurde klar, dass er mit seinem Gegenüber sprach, als wäre er schon tot. Der Arzt beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, sondern betete wieder seinen Rosenkranz der Zusammenhanglosigkeiten herunter. Ihm zitterten die Lippen, und sein Erguss umfasste einige vereinzelte Worte über seinen Unterricht in Cambridge, vermischt mit anderen über die Monate, die er in Paris verbracht hatte, und einige vage Anspielungen auf die Melodie vom Ursprung, die den Komponisten erschaudern ließen.
    »Warum seid Ihr zurückgekehrt?«, fragte auf einmal der Engländer.
    »Wie bitte?«
    »Warum seid Ihr zurückgekehrt?«, wiederholte er. »Wir haben uns doch gerade eben verabschiedet, und jetzt seid Ihr auf einmal wieder hier …«
    Charpentier verstand überhaupt nichts mehr.
    »Das ist mein erster Besuch hier bei Euch …«
    »Sagt doch das nicht«, unterbrach ihn der Kranke wütend. Er versuchte, sich der Übermacht des Fiebers zu widersetzen. »Ich stehe zwar an der Schwelle des Todes, aber ich merke schon noch, ob ich mit jemandem spreche oder nicht.«
    »Ich versichere Euch, dass ich …«
    »Ihr wart vor ein paar Minuten schon einmal hier und seid wieder gegangen«, bekräftigte er nun immer überzeugter. »Dann kam eine Krankenschwester, um mir diesen Fraß einzuflößen, und Ihr seid in genau dem richtigen Augenblick zurückgekehrt, um mich vor dem nutzlosen Weib zu retten. Quält mich doch nicht mit Euren Lügen!«, rief er wirr.
    »Worüber haben wir denn vorhin gesprochen?«, fragte der Komponist langsam. Er ahnte plötzlich das Schlimmste.
    »Jetzt wollt Ihr auf einmal wissen, worüber wir geredet haben?«, rief der Kranke wieder und brach in Gelächter aus, als wäre er betrunken. Er versuchte erneut, sich den Verband von den Augen zu streifen. Als er die Arme hob, verspürte er einen stechenden Schmerz und rollte sich zu einem Ball zusammen. »Wir haben über das gesprochen, was Ihr wissen wolltet.«
    »Und … Was habt Ihr mir gesagt?«
    »Das über den Seemann.«
    Charpentier schlug sich die Hände vors Gesicht und versuchte, sich seine Bestürzung nicht anmerken zu lassen.
    »Was habt Ihr mir denn ganz genau erzählt, mein Freund?«
    »Wo Ihr den Seemann antreffen könnt. Habt Ihr das etwa schon wieder vergessen? Kaum zu glauben. Ein intelligenter Mann wie Ihr …«
    Ein Krampf überkam ihn, und er erbrach eine widerwärtige Mischung aus Brei und Blut auf das Laken. Der Komponist wusste, dass er den Arzt nie wiedersehen würde, und legte ihm die Hand auf die Brust.
    »Lebt wohl …«
    »Wenn ich drüben Euren Neffen sehe, werde ich ihn von Euch grüßen«, entgegnete der Sterbende mit dem Lachen eines Wahnsinnigen, während Charpentier, so schnell er konnte, durch die Gänge voll schmutziger Betten davoneilte.
    Er sprang in den Wagen und befahl dem Kutscher, die Pferde anzutreiben und das Viertel anzusteuern, in dem der Seemann lebte, einen Vorort am übel riechenden Flussufer vor den Toren von Paris. Es durfte einfach nicht sein … Die Mörder waren drauf und dran, ihn der Quelle der Melodie vom Ursprung zu berauben. Er musste unbedingt vor ihnen eintreffen. Ihm war klar, was sonst geschehen würde: Sie würden den Matrosen entführen, um durch ihn an die richtige Melodie zu kommen, und versuchen, sie durch irgendeinen unqualifizierten Musiker transkribieren zu lassen, den sie schließlich aus dem Weg schaffen würden wie Jean-Claude. Dann würde man das alchemistische Projekt in der Schublade der Utopien ablegen, und Matthieu müsste bis an sein Lebensende in der Bastille vor sich hinsiechen.
    »Mein Gott, lass es noch nicht zu spät sein …«
    Irgendwann kam der Wagen nicht weiter voran, weil nach einem kürzlichen Hochwasser Äste und Zweige den Weg versperrten. Die Pferde schnaubten und schlugen mit den Vorderbeinen aus. Der Fuhrmann fürchtete schon, wieder umkehren zu müssen.
    »Hier geht es nicht mehr vorwärts!«, rief er keuchend, während er an den Zügeln riss.
    Charpentier schoss aus der Kutsche und rannte zu Fuß weiter. Er watete durch den Schlamm und lief zwischen den Rinnsalen

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