Das geheime Lied: Roman (German Edition)
eines von Exkrementen übersäten Bächleins hindurch. Kleine Kinder, die mit dem nackten Hintern auf der Erde saßen, spielten mit verfaultem Gemüse, das jemand fortgeworfen hatte. Einen Moment lang zweifelte er, ob er überhaupt am richtigen Ort war. Sein gequälter Geist hatte fast alle Details des ersten Treffens mit dem Seemann verdrängt. Wie hätte er denn auch ahnen sollen, dass dieser Besuch, den er doch für den Beginn eines poetischen Abenteuers gehalten hatte, seiner Familie Tod und Unheil bringen würde? Ihn überkam ein Gefühl der Beklemmung, das ihm die Brust zuschnürte. Er rannte durch das Viertel und warf einen Blick in jedes Gässchen. Als er seine Suche schon aufgeben wollte, erspähte er zwischen Häuschen auf einer Anhöhe auf einmal jenes, in dem der Seemann mit seinem Vater wohnte. Es handelte sich um einen windschiefen kleinen Bau aus Stein mit einem Strohdach und einer Außentreppe, über die man das obere Stockwerk erreichte. Als er davorstand, war er sicher, hier richtig zu sein. Er warf einen Blick nach links und rechts, um zu sehen, ob der Mörder in der Nähe war. Eine Frau öffnete das Fenster eines anliegenden Gebäudes und schloss es sofort wieder. Charpentier klopfte an die Tür, aber niemand öffnete ihm. Er blickte sich wieder um. Als er das Haus umrundete und weiter hinten an einem Schober vorbeikam, glaubte er, die Stimme des Matrosen zu vernehmen.
Er ist es!, jubelte er innerlich, während er sich dem Eingang näherte.
Gerade wollte er anklopfen, da fiel es ihm plötzlich auf. Er hörte nicht nur eine, sondern zwei Stimmen. Sie waren ihm zuvorgekommen! Er ballte die Hände zu Fäusten und unterdrückte einen Wutschrei. Dann presste er den Kopf ans Holz und spitzte die Ohren. Der Seefahrer machte dem anderen Mann Vorwürfe, weil er aus einer Kiste Münzen genommen hatte, und dieser antwortete, dass man das Leben nur betrunken ertragen konnte. Charpentier atmete erleichtert aus. Es war nur der Vater des Matrosen. Der Komponist hämmerte geräuschvoll gegen die Tür, und die Stimmen verstummten augenblicklich. Kurz darauf erschien das gegerbte Gesicht des Seemanns hinter einem Gitter.
»Was führt Euch denn hierher?«, wollte er wissen. In seiner Stimme klang immer noch Gereiztheit mit.
»Lass mich herein«, befahl der Komponist und schob sich an ihm vorbei. »Und schließ die Tür hinter mir ab.«
Im Inneren des Schobers herrschte Dunkelheit. Aus dem von Falten durchzogenen Gesicht sah ihn der ältere Mann unter trägen Lidern hervor an. Er saß neben einem Heuballen auf einem klapprigen Stuhl.
»Entschuldigt meinen Vater. Er ist …«
»Ihr habt Euch die Schuhe schmutzig gemacht, Majestät«, lallte der Alte boshaft.
»Jetzt haltet doch endlich den Mund!«, schrie der Matrose ihn an.
»Dies ist kein Viertel für Höflinge …«, murmelte der Vater. »Seit Ihr Euren Fuß in unser Haus gesetzt habt, war mein Sohn nicht mehr auf See. Nun hat er die Taschen voller Geld und glaubt, dass er mir vorschreiben kann, was ich tun soll!«
Der Seemann hob die Hand, als wollte er ihn schlagen.
»Mich brauchst du nicht zu verteidigen«, beruhigte ihn Charpentier. »Aber wir müssen so schnell wie möglich von hier fort.«
»Warum? Was ist passiert?«
Der Komponist schluckte. In diesem Moment war draußen Lärm zu hören.
»Gott, nein …«
Er blickte durch eine Ritze zwischen zwei Brettern in der Wand.
»Sprecht, was ist geschehen?«, drängte der Seemann und kam näher, um ebenfalls einen Blick nach draußen zu werfen.
»Redet leise!«
»Warum?«
»Sie sind hinter dir her.«
»Hinter mir? Wer?«
»Jean-Claudes Mörder, dieselben, die auch Dr. Evans angegriffen haben.« Er drehte sich um und sah ihn an. »Sie wollen die Melodie.«
»Verdammt …«
»Was können wir jetzt tun?«
Der Vater saß mit den Händen auf den Knien da und blickte nun nicht mehr so spöttisch drein. Hastig öffnete der Matrose eine Truhe, zog einen kurzen Dolch hervor und befestigte ihn am Gürtel. Dann griff er nach einer Heugabel mit vier Zacken, die an der Wand hing. Er sah wieder hinaus und entdeckte drei Männer bei der Tür. Einer von ihnen, ein wahrer Hüne, machte sich am Schloss zu schaffen.
»Sie sind hier …«
Der Komponist deutete auf eine Ecke des Schobers.
»Führt diese Tür ins Haus?«
»Ich werde nicht fliehen, ohne mich ihnen zu stellen.«
Der Seemann warf seinem Vater einen durchdringenden Blick zu. Auch dieser suchte inzwischen in der Truhe nach irgendetwas, das er als
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