Das Geheimnis am goldenen Fluß
hilf mir, sie an Land zu ziehen, schnell.«
Er blickte sich suchend um. »Tree? Wo bist du? Tree!«
»Mason!«, rief Tree. »Ich kann nicht mehr!«
Mason entdeckte sie weiter vorn zu seiner Linken, wo sie sich an der Oberkante der Innenwand einer breiten hölzernen Wasserrinne festhielt, die seitwärts aus dem Fluss herausführte. Die Stromschnellen spülten über Tree hinweg, hüllten sie in silbrige Gischt, und sie schien kaum Luft zu bekommen. Entsetzen verzerrte ihr Gesicht. Mason stieß einen Schwall wüster Flüche aus. Die Flussrinne speiste, wie er wusste, das Wasserrad der Seidenfabrik.
Er schaute auf K’un-Chien, deren Hände schlaff in der Strömung hingen. Er blickte zu Tree zurück, sah sie husten und würgen und Wasser spucken. Sein Herz zog sich zusammen wie eine geballte Faust.
Ihm war klar, dass bis er K’un-Chien ans Ufer gezogen hatte, die Stromschnellen Tree von der Holzwand gerissen und sie die Flussrinne hinuntergespült haben würden und sie nach einem dreiviertel Kilometer im Wasserrad zerquetscht werden würde. Aber wenn er K’un-Chien jetzt losließe, so schnell er konnte an Land schwämme und das Ufer entlangrannte, um Tree aus dem Wasser zu holen, würde K’un-Chien längst auf dem Grund des Flusses liegen, ihre Lungen mit Wasser gefüllt, wenn er zu ihr zurückgeeilt wäre, um auch sie zu retten.
Er spürte einen Stich im Herzen. Ich kann nur eine von bei den retten.
Er erstarrte. In seiner Atemlosigkeit schien die Zeit stillzustehen, und der Schmerz einer lange zurückliegenden Nacht in einem fernen Land überfiel seine Sinne. Er hielt Gibs Körper, den Kopf in seinem Schoß, und er war erstaunt von dessem Gewicht – als hätte der entwichene Geist alle Spannkraft mit sich genommen, und übrig blieb nichts als bloßes Gewicht, ein Barren des Todes.
In Kriegsfilmen sieht der Sterbende seinem Freund ein letztes Mal in die Augen und röchelt ein paar Worte. Ein letzter Abschied, ein letzter seelenvoller Blick. Aber das war Hollywood. In Vietnam, im grünen Dunkel, war Gib schon tot gewesen, als Mason ihn umdrehte. Er hätte einen Arm durch den glitschigen Tunnel in Gibs Brust schieben können. Der Geruch von Blut, Schießpulver und regenweicher Erde hing so schwer in der Luft, dass man ihn auf der Zunge schmeckte. Seine Ohren waren taub von den Minenexplosionen und dem Stakkato automatischer Gewehre. Dort, im echten Feuer und Regen, hatte sein bester Freund keine letzten Worte gesprochen. Gibs Leiche war so bleiern gewesen, grabwärts gezogen von der Schwerkraft. Gib war tot. Und Mason hatte den Abzug gedrückt.
Mason zuckte zusammen und war wieder in der Gegenwart, und für einen Moment glaubte er, den Ausweg aus seinem Dilemma zu kennen. Sartre hatte es gesagt: »Nicht zu wählen heißt zu wählen.«
Er würde einfach nichts tun. Sie würden alle von der Strömung fortgerissen und ins Wasserrad gespült werden. So musste er nicht zurückbleiben und über einen weiteren Verlust trauern.
Nein, verdammt, das ist zu selbstsüchtig. Ich muss eine Entscheidung treffen: Rette eine der beiden und lass die andere sterben.
Er stieß einen weiteren Schwall wüster Flüche aus. Und ließ K’un-Chien los.
25
»Mason! Bleib, wo du bist! Ich hole Tree.«
Mason schaute auf und sah Domino Cruz auf Tree zurennen, die sich, in tosende Gischt gehüllt, noch immer an der Holzwand der Flussrinne festhielt. Mason wirbelte zu K’un-Chien herum, deren Kopf unter Wasser gesunken war. Er hob sie an und brachte sie mit kräftigen Schwimmstößen an Land. Nachdem er K’un-Chien auf das Kiesbett gezogen hatte, schaute er auf und sah Tree nahe der Flussrinne am Ufer liegen. Domino kniete neben ihr. Ein Dutzend Drachenfrau-Soldaten standen im Kreis um das Paar, ein weiteres Dutzend um ihn.
Mason richtete seine Aufmerksamkeit auf K’un-Chien. Sie röchelte und rang nach Luft. Er presste sein Ohr auf ihren Brustkorb. Kein Wasser in ihren Lungen. Sie war noch nicht am Ertrinken gewesen. Ihr Problem war vielmehr ein durch die Bienenstiche ausgelöster anaphylaktischer Schock – in wenigen Augenblicken würde ihre Luftröhre zugeschwollen sein. Verdammt, er wünschte, er hätte sein Messer. Ihm blieben nur wenige Sekunden, um ihren Lungen eine Luftzufuhr zu schneiden.
»Hast du ein Messer?«, rief er Domino zu.
Domino schüttelte den Kopf.
»Atmet sie?«, rief Tree.
»Nicht mehr lange«, sagte Mason und wandte sich zu den Soldatinnen um. »Schnell. Gebt mir einen eurer Dolche.«
General Yu
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