Das Geheimnis der Götter
Bogenschützen legten an und zielten auf das Ungeheuer.
»Nicht schießen!«, befahl Isis.
Pachet, die »Kratzende«, beherrschte die zerstörerischen Feuer und verwandelte sich in ein Reptil, das die Feinde der Sonne besiegen konnte.
Isis warf sich vor ihr zu Boden.
»Hier bin ich wieder. Heute geht es um das Überleben von Osiris. Ich bin gekommen, um dich um die Reliquie zu bitten, die du bewachst.«
Die Kobra wirkte feindselig und schien zustoßen zu wollen.
»Ich erschlage sie!«, rief Sekari.
»Nein, rühr sie nicht an!«
Isis zeichnete neun Kreise in den Sand vor der Höhle und in deren Mitte eine zusammengerollte Schlange.
»Du verkörperst das Feuer, das sich zum Licht hinaufwindet, den Weg, den man nehmen muss, um der Finsternis zu entkommen. In dir vollziehen sich die Verwandlungen der Wiedergeburt. Erforsche mein Herz, du wirst sehen, dass ich in reiner Absicht gekommen bin.«
Als die Zunge der Kobra über die Stirn der Priesterin strich, war Sekari nahe dran, einen tödlichen Pfeil abzuschießen, hielt sich dann aber doch an den Wunsch der Oberpriesterin. Isis tauschte den Schlangenkopf gegen den Kopf einer Gepardin aus.
Sofort glitt das gewaltige Tier zu ihrer Zeichnung, folgte der Spur der neun Kreise und verschlang sich selbst. Entsetzt vernahmen die Zuschauer das Gebrüll der Raubkatze.
Ergeben ließ sie sich die zärtlichen Berührungen der jungen Frau gefallen und begleitete sie in die Höhle. Im Gegensatz zu Isis waren Nordwind und Fang sehr aufgeregt, Sekari und die Bogenschützen blieben schussbereit.
Als Isis wieder aus Pachets Grotte herauskam, hielt sie die kostbare Reliquie in der Hand – die Augen des Osiris.
Oberägyptens zwanzigste Provinz, der Vordere Baumgau, verdiente ihren Namen nur zu Recht. Zahllose Oleanderbüsche schmückten die Nilufer und die Umgebung der Hauptstadt, dem »Kind der Binse«, Zeichen für die Krone. Nach dem Vorbild dieser einfachen Pflanze, die sich für vielerlei Zwecke eignete, diente der Pharao jederzeit seinem Volk. In der Nähe des Tempels befand sich ein großer See, den ein Widder-Gott beschützte.
»Irgendwie ist es hier verdächtig ruhig«, meinte Sekari. Ein kleiner Junge kam auf die Besucher zu.
»Seid willkommen! Möchtet Ihr etwas trinken?«
»Wer bist du denn?«, fragte ihn Sekari misstrauisch.
»Der jüngste zeitweilige Priester aus diesem Tempel.«
»Führ uns zu deinen Vorgesetzten.«
»Das geht nicht, die Priester sind alle krank.«
»Herrscht bei euch etwa eine Seuche?«
»Nein, alle haben etwas Schlechtes gegessen, und jetzt liegen sie im Fieberwahn.«
»Wer hat ihnen denn die verdorbene Nahrung zubereitet?«
»Ein Vertreter unseres Kochs. Die Wachen wollten ihn verhören, aber er ist geflüchtet. Wollt Ihr vielleicht den Vorgesetzten der zeitweiligen Priester sprechen?«
Der Mann hatte offenbar schlechte Laune und begrüßte Isis und Sekari sehr abweisend.
»Wegen des Ausfalls der Priester bin ich mit Arbeit überlastet und habe keine Zeit für unnötiges Geschwätz. Fasst Euch also kurz.«
»Zeig uns die Osiris-Reliquie«, verlangte Sekari. Dem Priester verschlug es beinahe die Sprache.
»Für wen haltet Ihr Euch eigentlich?«
»Verneige dich vor der Oberpriesterin von Abydos und sei ihr gehorsam!«
Der Priester spürte, dass sein Gegenüber die Wahrheit sagte.
»Dazu bin ich aber gar nicht berechtigt…«
»Wir sind sehr in Eile.«
»Also gut – folgt mir bitte.«
Der Priester führte sie in die Kapelle mit der Reliquie, einen kleinen Raum, dessen Wände mit Schriften zur Geburt der
»großen Gestalt mit den sieben Gesichtern« bedeckt waren, dem Kind des göttlichen Lichtes, das auf dem Ur-Lotus erschienen war.
»Ich darf hier nicht hinein und erst recht nicht den Tempelraum öffnen.«
»Lassen wir die Oberpriesterin allein«, sagte Sekari und nahm seinen Gastgeber mit nach draußen.
Mit lauter Stimme las Isis das Ritual, das in den Fels gemeißelt war. So wurde sie selbst zum leibhaftigen Wort und konnte die Schutzgeister besänftigen, die den Zugang zum Reliquienschrein untersagten, und die Tür öffnen. Isis kam mit leeren Händen aus dem Tempel.
»Die Reliquie ist verschwunden.«
»Das ist ganz ausgeschlossen«, sagte der Priester, »die unsichtbaren Geister hätten jeden Eindringling getötet!«
Angesichts der magischen Schutzvorkehrungen für den Schrein war dieser Einwand recht überzeugend.
Dann hatten Isis und Sekari ein und denselben Gedanken: Es musste der Prophet gewesen sein, er
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