Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
weinte ich heiße Tränen und glaubte, ihr wären die Möwen wichtiger oder das Vieh im Stall, so wenig beachtete sie mich. Doch das war nicht gerecht. Ich weiß es heute. Mutter konnte nicht anders. Sie liebte mich, so wie ich war. Es lag ihr nichts daran, mich zu verändern. Ich liebte sie auch. Doch als Mutter mehr und mehr Zeit in ihrer eigenen Welt verbrachte, gab es kaum noch Raum für mich und die Wirklichkeit.« Tedamöh blickte ins Feuer und seufzte. »Das war schwer zu ertragen. Ich war deshalb immer besonders glücklich, wenn mein Vater während der kalten Monate nach Hause zurückkehrte.« Tedamöhs Augen leuchteten. »Er sah aus wie ein Bär, war ungewöhnlich groß und breitschultrig und hatte den tapsigen Gang des Pelztieres. Mit ihm streifte ich stundenlang über die Insel. Wir gingen fischen, beobachteten Seehunde und schrien den Wildgänsen hinterher, die über uns hinwegzogen.
Vater sah in mir wohl den Sohn, den er gerne gehabt hätte. Meine Mutter wurde ihm mit der Zeit fremd. Zwar saßen
meine Eltern gemeinsam an einem Tisch, doch waren sie weit voneinander entfernt. Mutter ließ sich noch tiefer in ihre Traumwelt fallen, wenn Vater bei uns war. Dabei wusste er so spannend vom wahren Leben zu erzählen. Sie starb schließlich an einem tief verschneiten Wintertag. Sie hatte ihr Leben lang ein schwaches Herz gehabt.«
Im Raum war es ganz still, nur das Holz im Feuer knisterte. Seufzend fuhr die Alte fort. »Als Vater wieder zur See fahren musste, da hätte er mich am liebsten mitgenommen. Aber das ging natürlich nicht. Ich, eine Seefahrerin - das blieb ein Traum meiner Kindertage. Aber andere Wünsche gingen in Erfüllung. Ich wollte unbedingt mehr als nur lesen und schreiben lernen. Mir reichte der Unterricht, den wir Inselkinder regelmäßig erhielten, nicht.« Ihr Blick traf Onno, der schmerzlich das Gesicht verzog. »Tja, mein Söhnchen, es gibt tatsächlich Kinder, die lernen wollen ! Und so lehrte mein Vater mich an den Winterabenden jeweils eine Kerze lang alles, was er wusste. Ich lernte leicht, und es machte ihm wohl Freude. Wenn die Kerze abgebrannt war, saßen wir oft noch lange im Dunkeln, und er erzählte mir von fernen Ländern und abenteuerlichen Reisen. Wie es sei, tagelang über Wasser zu fahren und kein Ende zu finden.
Vater kam in den Häfen mit den verschiedensten Menschen zusammen. Eines Abends, als er nicht mehr ganz nüchtern war, da gestand er mir, dass er sich auf einer Reise in eine Hebamme verliebt habe. Fast hätte er ihretwegen Mutter und mich verlassen, hatte es dann aber doch nicht übers Herz gebracht. Die Frau muss ihn mächtig beeindruckt haben. Sie war schon in jungen Jahren Witwe geworden, hatte alleine drei Kinder großgezogen und sich als Hebamme durchgeschlagen. Den meisten Frauen an ihrer Stelle wäre nur der Weg ins Hurenhaus geblieben.
In Vater wuchs die Angst, mir könnte Ähnliches passieren.
Von einer seiner Seereisen brachte er mir medizinische Lehrbücher mit. Sie waren natürlich gebraucht und völlig abgegriffen - neue wären ja unbezahlbar gewesen -, doch sie wurden zu meinen größten Schätzen und leisten mir auch jetzt noch manches Mal gute Dienste.
Als ich alt genug war, schickte Vater mich für drei Monate auf eine Hebammenschule. Fern von der Insel plagte mich ganz schrecklich das Heimweh, aber schließlich war der große Tag da, und ich erhielt den Berechtigungsschein, der mir erlaubte, mein Handwerk auszuüben.
Da ich nicht von Wangerooge lassen kann, blieb ich, auch als mein Vater starb, auf der Insel. Es sprach sich herum, dass ich nicht nur eine gute Wehmutter bin, sondern auch sonst nicht mit Dummheit geschlagen, was das Medizinische angeht. Das brachte mir Arbeit und Brot.
Ich bin meinem Vater dankbar für seine Weitsicht, denn der Herrgott hielt es für richtig, dass ich schon in jungen Jahren den Mann und später auch den Sohn verlieren sollte.« Ein Schatten zog über ihr Gesicht. »Geblieben ist mir einzig mein Enkelkind.« Der Blick, mit dem sie den Jungen jetzt bedachte, war ausnahmsweise fast zärtlich. »Seine Mutter ist bei der Geburt gestorben. Ich habe ihn aufgezogen und versuche nun, einen halbwegs anständigen Menschen aus ihm zu machen.« Sie zwinkerte Onno zu.
»Du versuchst es?«, rief Onno empört. »Bin ich denn nicht ein Prachtexemplar von einem Enkelsohn und ein außerordentlich anständiger Mensch?«
Jeels klopfte ihm lächelnd auf die Schulter. »Das bist du, mein Junge. Nach dir wird sich noch manche
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