Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
überaus scharfsinnig. Er hatte nicht nur den konspirativen Ermittler enttarnt, sondern auch die Gefahr, die von dem Pseudostudenten ausging, richtig eingeschätzt. Erstens.
Er fackelte nicht lange und traf selbständig Entscheidungen, ohne sich mit seinem Auftraggeber (falls es einen gab) zu beraten. Also ein Mann der Tat. Zweitens.
Schlussfolgerung: Er war gefährlich, sehr gefährlich. Drittens.
Fandorin ging in Gedanken die Büroangestellten durch und seufzte ratlos.
Landrinow? Der war sicherlich zu einem Verbrechen aus Leidenschaft fähig. Eine Gestalt wie aus einer blutrünstigen Romanze. »Freu dich an deiner Braut nach Herzenslust, sie liegt in meinem Haus mit einem Messer in der Brust.« Oder: »Stirb, Unglückliche!« Und dergleichen mehr. Aber sich vorzustellen, dass Landrinow seinem Chef aus Geldgier Gift in den Tee tat, war völlig unmöglich. Dieser Mann war unfähig zu Hinterlist und Verstellung.
Der schmeichlerische Taissi? Der war zweifellos imstande, zu spionieren und hinterrücks Gemeinheiten zu begehen. Aber auf dunkler Straße auf einen Menschen schießen? Wenig wahrscheinlich.
Der Oberschriftführer Serdjuk? Ausgeschlossen, dass der spionierte oder gar den Revolverhahn spannte. Oder er war ein solcher Schauspieler, dass ihm nicht einmal Stschepkin das Wasser reichen konnte.
Der Kammerdiener Fedot Fedotowitsch … Die Seele eines Dieners, das heißt, eines Menschen, der durch seinen Beruf zu einer Rolle verurteilt ist, die in der Gesellschaft als demütigend gilt, ist selten zu durchschauen. Wenn die Herrschaften wüssten, wie viel Hass sich unter der Maske der Beflissenheit und Unterwürfigkeit verbergen kann! Irgendeine Kränkung, die dem verstorbenenBaron nicht einmal bewusst geworden ist? Selbst wenn der Täter von der Konkurrenz bestochen war, spielten natürlich auch persönliche Rechnungen eine Rolle.
Wer noch? Doch nicht die Köchin! Obwohl, in den Rücken schießen kann auch eine Frau.
Er stellte sich vor, wie Marja, einen Revolver in der Hand, durch die Dunkelheit schlich, und musste lachen.
Dann kam Sergej von Mack an die Reihe, und das Lachen verstummte. Vielleicht hatte der unsympathische Herr Wanjuchin doch recht? Immerhin ein erfahrener Ermittler mit einem guten Gespür. Wenn einer fähig ist, aufs Ganze zu gehen, dann der Baron. Das wäre ein geschickter Schachzug – den Beamten für Sonderaufträge zu benutzen, um den Verdacht von sich abzulenken!
Fandorin wog das Pro und Kontra ab, lauschte auf die Stimme seines Herzens. Das Herz sagte: Nein. Der Verstand mutmaßte: Möglich. Sollte der Verstand recht haben, so lag der Grund für den Mordanschlag zweifellos in Fandorins übereiltem Satz: »Morgen sage ich Ihnen, wer der Mörder ist.«
In seinem Zimmer zündete der Kollegienassessor die Lampe an und wartete auf den Japaner, wobei er alle Anzeichen von Ungeduld erkennen ließ: Mal tigerte er hin und her, mal trommelte er mit den Fingern auf den Tisch, und alle naselang zog er die Uhr aus der Tasche – nicht seine Breguet, sondern eine billige silberne, die er sich aus Gründen der Konspiration von Masa geliehen hatte.
Die Ungeduld hatte zwei Gründe. Erstens hatte er Hunger. Zweitens rechnete er damit, von seinem Diener etwas sehr Wichtiges zu hören, was ihm erlauben würde, den Schlusspunkt unter die Ermittlung zu setzen.
Als Masa endlich erschien, wieder mit Tüten und Päckchen, fragte Fandorin sofort: »Na? Wer?«
Der Japaner breitete die Nahrungsmittel auf dem Tisch aus. Mitder Antwort ließ er sich Zeit, aber seine gewichtige Miene besagte: Er war fündig geworden.
Schließlich nahm er dem Beamten gegenüber Platz und setzte zu einem ausführlichen Vortrag an. Als Erstes zog er die Breguet aus der Tasche, legte sie vor sich hin und betrachtete sie so liebevoll, dass Fandorin Zweifel kamen, ob er die Uhr zurückbekommen würde, wenn die Notwendigkeit der Konspiration entfiel.
»Ihre Nachricht, Herr, wurde mir fünf Uhr dreiundzwanzigeinhalb Minuten nachmittags überbracht. Gemäß der darin enthaltenen Anweisung bezog ich unweit von Mossolows Kabinett Posten und wartete, ob einer von Ihren Kollegen auftauchte. Dem Leiter des Kurierdienstes, der mich irgendwohin schicken wollte, gab ich durch Zeichen zu verstehen, dass ich Bauchschmerzen hatte. Er fluchte und nannte mich ›schlitzäugiges Aas‹, wofür ich ihn mit Ihrer Erlaubnis etwas verprügeln werde, wenn der Auftrag beendet ist.« Masa nahm die Uhr in die Hand. »Also, um sechs Uhr elf hat mich der
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