Das Geheimnis der Perle
er zu Anfang nicht das bekommen, was er gebraucht hat. Deshalb wollte er vielleicht immer mehr.“
Roman schlug den Weg zu dem kleinen Friedhof ein. Erst als sie ihn fast erreicht hatten, sprach er wieder. „Als dein Vater noch ein Junge war, habe ich ihn manchmal hier gefunden. Er saß auf dem Grabstein seiner Mutter und plapperte in einem fort, als könnte sie ihn hören. Er hat ihr erzählt, was er an dem Tag gemacht, welches Pferd er geritten oder welchen Fisch er im Fluss gefangen hatte.“ Er schüttelte den Kopf.
„Die beiden haben sich sehr nahegestanden. Als Joan noch lebte, hat sie uns drei immer zusammenge…“
Er stockte, als wünschte er, nicht so viel preisgegeben zu haben. Matthews Kehle war wie zugeschnürt. Er hatte nie so an seinen Vater gedacht. Ein kleiner, einsamer Junge, der niemanden zum Reden hatte, außer seiner Mutter, die schon tot war.
„Deshalb bin ich nie wieder hierhergegangen.“ Roman blieb am Tor stehen. „Denn sonst würde ich sie beide sehen.“ Stocksteif stand er da, mit unbewegter Miene, als würde der leiseste Anflug von Gefühl ihn zusammenbrechen lassen.
Matthew fühlte Tränen in sich aufsteigen. Die Tränen eines kleinen Jungen, die sein Großvater sicher mit Verachtung strafen würde. Schnell blinzelte er sie zurück. Er wusste, dass es nun an der Zeit war, Roman zu gestehen, warum er gekommen war.
„Ich habe dir ja gesagt, dass ich hier bin, um dich und Jimiramira kennenzulernen. Das war ein Grund, warum ich nach Australien gekommen bin.“ Er schluckte. „Vor langer Zeit haben zwei meiner Vorfahren eine Perle gefunden. Und diese Perle war so makellos, so perfekt, dass jeder, der sie in Händen hielt und sein Eigen nannte … na ja, sich nicht mit ihr messen konnte. Die Perle bringt in jedem das Schlechteste hervor …“
„Über was redest du da, Junge?“
„Die Köstliche Perle.“ Und dann erzählte Matthew das, was er erfahren hatte. Dass Archer Tom wegen der Perle umgebracht hatte. Dass Mei später nach Jimiramira gekommen war, um die Perle zu stehlen. Von Romans Vater Bryce. Und dass Thomas seiner Schwester Mei die Perle wieder weggenommen hatte. „Allen hat die Perle nur Unglück gebracht. Archer war selbstsüchtig, deshalb hat er Tom getötet. Dein Vater und meine Tante Mei haben sich verliebt, aber die Perle hat diese Liebe zerstört. Meine Eltern waren mal glücklichzusammen, aber jetzt sind sie geschieden.“ Matthew stockte. „Und meine Mutter hat inzwischen sogar Angst, auf die Straße zu gehen. Sie will sich frei bewegen, aber sie braucht auch Sicherheit. Deshalb kämpft sie ständig mit sich selbst. Und mein Vater … Nun ja, seine größte Schwäche ist seine Angst, dass jemand ihm seine Unabhängigkeit nimmt.“
Wieder hielt er inne und atmete schwer. Ob er wohl alles richtig erklärt hatte? Schließlich erzählte er von Viola und Willow, seiner Großmutter Hope und seinem Großvater Thomas. „Die Perle hat all diesen Menschen nur Unglück gebracht“, schloss er.
Roman lehnte sich gegen den Zaun und musterte seinen Enkel. „Warum bist du wirklich hier? Was hat all das mit mir zu tun? Ich habe diese Perle nie gesehen, obwohl ich Geschichten darüber gehört habe. Aber von dem, was du erzählt hast, kenne ich nicht einmal die Hälfte.“
„Aber all das hat Einfluss auf dein Leben gehabt, verstehst du? Dein Vater hat Tante Mei geliebt. Aber nachdem sie ihn mit der Perle verlassen hat, hat er vielleicht Angst gehabt, noch einmal jemanden zu lieben. Ist das nicht mit ein Grund, warum du nicht weißt, wie du meinen Vater lieben sollst, so wie ein Vater es tut? Weil dein Vater dich nicht richtig lieben konnte?“
Roman trat einen Schritt vor, als wollte er ihn zum Schweigen bringen. „Das ist doch hirnverbrannter Unsinn.“
Matthew wusste, dass die Zeit gekommen war. Entweder musste er Jimiramira sofort verlassen, ehe Roman herausfand, warum er ihm die ganze Geschichte erzählt hatte, oder er musste darauf vertrauen, dass er ihm helfen würde. Er sah zu den Kakadus, die zum Fluss hinüberflogen, um sich dort vermutlich zur Nachtruhe in den Baumwipfeln niederzulassen.
Plötzlich überfiel ihn eine seltsame Ruhe, als sei sein Leben, seine Entscheidung genauso leicht wie die Luft unter ihren ausgestreckten Flügeln.
Er zog sein Hemd hoch und den Hosenbund ein kleines Stück herunter. Ein großes rundes Heftpflaster klebte über seinem Nabel, das sein Großvater misstrauisch beäugte. Matthew löste es vorsichtig ab, wölbte die Hand
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