Das Geheimnis der schönen Catherine
sondern in Indien … Aber wieso war Miss Singleton in Indien im Alter von vierzehn Jahren Opfer eines Raubüberfalls geworden?
Mit vierzehn Jahren saßen Mädchen im Schulzimmer, fertigten Stickmustertücher und übten Klavier. Hugo schob den Teller von sich weg. Auf einmal kam ihm sein Verdacht, was den Verlust seiner Krawattennadel anging, gar nicht mehr so absurd vor. All seine Fragen schienen um ein einziges Rätsel zu kreisen: Wer war diese Catherine Singleton? Mittlerweile war er fest davon überzeugt, dass sie nicht das harmlose kleine Ding war, das sie zu sein vorgab. Kein Schulmädchen würde einen Angreifer mit solchem Mut abwehren und Sekunden später völlig gefasst dahinreiten, als wäre nichts passiert. Die nötige Selbstbeherrschung erwarb man erst mit dem Alter … oder durch Erfahrung. Und sie hatte auch nicht die Spur gelispelt. Auch das war also nur vorgetäuscht gewesen. Das alles war sehr ärgerlich. Er war ausgeritten, um die unmögliche und irritierende Miss Catherine Singleton zu vergessen, und jetzt – jetzt musste er noch mehr an sie denken. Und was das Schlimmste war – die Begegnung im Park hatte ihre Anziehungskraft eher noch verstärkt. Er war stärker an ihr interessiert und fühlte sich noch mehr zu ihr hingezogen als am Vorabend. Zum Kuckuck!
Kapitel 4
Catherine überließ die Zügel ihres Pferdes dem Stalljungen, der schon auf sie wartete, drückte ihm Geld in die Hand und glitt durch den Seiteneingang hinein in das Haus von Rose Singleton. Leise verriegelte sie die Tür hinter sich und lehnte sich dann mit geschlossenen Augen dagegen. Ihr Puls raste. Warum hatte sie ausgerechnet ihm begegnen müssen? Warum hatte ausgerechnet er ihr ventre à terre zu Hilfe eilen müssen? Dieser Mann! Den ganzen Morgen hatte er ihr verdorben. Und dann auch noch die Wegelagerer! Dabei hatte Catherine sich solche Mühe gegeben, unbemerkt aus dem Haus zu kommen. Dass Diebe ihr auflauern könnten, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Sie, Catherine Smith – eine Beute für Diebe!
Schade, dass ihr Vater das nicht mehr miterleben durfte. Papa hätte sich über diese Wendung sehr amüsiert. Sie würde also ihre Ausritte verlegen müssen, jetzt, wo ihr nicht nur Diebe auflauerten. Wer hätte gedacht, dass Mr. Devenish schon im Morgengrauen ausreiten würde?
Hatte er sie erkannt? Ach! Es war dumm von ihr gewesen, mit ihm zu sprechen – überhaupt ein Wort zu sagen. Und dann auch noch mit unverstellter Stimme! Catherine atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Jetzt ist es zu spät, sagte sie sich. Was geschehen ist, ist geschehen. Diese Lektion hatte sie schon als Kind gelernt. Man konnte die Uhr nicht zurückdrehen. Mr. Devenish hatte sie ertappt, wie sie unbegleitet durch den Park geritten war.
Aber er konnte es nicht beweisen. Und auch wenn sie ihre Angreifer rabiat und wenig damenhaft abgewehrt hatte, was machte das schon? Viele Damen ihrer Bekanntschaft benahmen sich dann und wann recht undamenhaft. Wie ein unschuldiges Schulmädchen hatte sie sich auch nicht gerade benommen … Aber es waren ja auch nicht alle Schulmädchen unschuldig. Sie straffte die Schultern und eilte über den Dienstbotenaufgang nach oben. Sollte Mr. Devenish doch denken, was er wollte. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass Tante Roses Ruf als Anstandsdame Schaden nahm, was zwar bedauerlich, aber zu verschmerzen wäre. Vorsichtig lugte Catherine in das kleine Ankleidezimmer, das zu ihrem Schlafzimmer gehörte. Maggie lag noch immer in tiefem Schlaf. Es wurde gerade erst hell.
Nur die auf der Rangskala ganz unten stehenden Dienstboten regten sich bereits; Tante Rose würde noch vier bis fünf Stunden friedlich schlummern. Vor elf Uhr morgens stand sie selten auf. Catherine schlüpfte aus ihrem Reitkostüm und hängte es ordentlich im Schrank auf. Dann streifte sie ihr Nachthemd über, das sie vor weniger als einer Stunde abgelegt hatte, und kuschelte sich in die immer noch warmen Decken. Sie würde ebenfalls noch eine Weile ruhen und dann frisch und gestärkt aufwachen. Niemand würde von ihrer Exkursion im Morgengrauen erfahren. Sie war daran gewöhnt, mit Unterbrechungen zu schlafen. Außerdem besagte eine weitere frühkindliche Erfahrung, dass oft die Stunden am fruchtbarsten waren, in denen alles schlief. Mr. Devenish sitzt gut im Sattel, dachte sie, während sie die ersten Sonnenstrahlen beobachtete, die ihren Weg durch das Fenster fanden. Er war ihr schon aufgefallen, bevor die Räuber über sie
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