Das Geheimnis der schönen Catherine
zuerst. Sie müssen mir noch von Ihrer Kindheit erzählen. Und dann, vielleicht, werde ich Ihnen von meinem Zuhause erzählen.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Die meiste Zeit wurde ich von einem ziemlich strengen und völlig fantasielosen Hauslehrer beaufsichtigt, der glaubte, dass Latein und Griechisch das Einzige sind, was ein kleiner Junge lernen muss. Ansonsten war ich so ziemlich mir selbst überlassen.«
»Aber Sie müssen doch … Was ist mit Ihrer Familie?«
»Meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war.«
»Das tut mir Leid. Meine auch.« Impulsiv legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Ich weiß, wie das ist. Hat sie Ihnen sehr gefehlt?«
»Nein«, sagte er. »Ich habe sie kaum gekannt. Sie … sie lebte lieber in London.« Obwohl sie ihn nur leicht berührte, war er sich ihrer Hand nur zu sehr bewusst. »Oh! Dann erzählen Sie mir doch von Ihrem Bruder, dem Vater von Lord Norwood. Standen Sie sich sehr nahe? Sie haben sicher viel miteinander gespielt.« Gespielt? Hugo dachte daran zurück, wie oft ihn sein älterer Halbbruder verprügelt hatte, wobei er vorgab, dass alles nur ein Spiel sei. Hugo war immer bewusst gewesen, dass sein Halbbruder ihn verachtete. Und sein Vater hatte jedes Zeichen von Schwäche nicht auf Hugos Alter, sondern auf seine niedrige Abstammung zurückgeführt. Sein Halbbruder war ein Scheusal gewesen, groß und kräftig, und merkte bald, dass seinem Vater das Schicksal seines zwölf Jahre jüngeren Bruders völlig egal war. »Ach, wissen Sie, mein Halbbruder war ein gutes Stück älter als ich, da hatten wir wenig gemeinsam. Ich habe viel alleine gespielt und war auch viel allein.« Wenn mir das möglich war.
Hugo begann sich unwohl zu fühlen. Seine Kindheit erschien ihm plötzlich wie ein langweiliges Rührstück. Das alles war längst vorüber, es war besser, die Dinge zu vergessen, die man ohnehin nicht ändern konnte, und sich neuen Dingen zuzuwenden. Miss Catherine Singleton etwa. Noch immer ruhte ihre Hand auf seinem Arm. Ja, die Gegenwart war entschieden angenehmer als die Vergangenheit. »Viel mehr gibt es nicht zu erzählen. Mein Vater starb, als ich neun Jahre alt war. Mein Halbbruder wurde im Jahr darauf bei einem Jagdunfall erschossen. Er hinterließ eine Frau und einen kleinen Jungen.«
»Oh, wie traurig.
Und Sie?« Sie schien sich plötzlich bewusst zu werden, dass sie ihn noch immer berührte, und nahm mit verlegener Miene die Hand weg. Hugo tat, als hätte er nichts bemerkt. Er zuckte mit den Schultern. »Mein Vater und mein Halbbruder hatten die Finanzen in fürchterlichem Zustand hinterlassen, daher kehrte meine Schwägerin mit meinem Neffen in ihr Elternhaus nach Kent zurück.«
»Und hat Sie natürlich mitgenommen.«
»Nein. Das war der Zeitpunkt, als ich zur See geschickt wurde.« Überrascht sah sie ihn an. »Das ist in Ihrer Familie wohl Tradition?«
»Nein.«
»Wollten Sie denn zur See gehen?« Vor seinem geistigen Auge stand der Moment, wie er als Zehnjähriger frierend und verängstigt sein kleines Bündel mit Habseligkeiten umklammert hatte, während der Bedienstete seines Halbbruders über die Gangway davonging. »Ich wurde nicht gefragt.« Sie runzelte die Stirn. »Sie waren doch erst zehn Jahre alt, nicht wahr? Es muss sehr beängstigend sein, wenn man so weit weggeschickt wird.« Wieder legte sie ihm tröstend die Hand auf den Arm. »Ich habe mich daran gewöhnt.«
Nur ungern dachte Hugo an die ersten angsterfüllten Monate zurück, daran, wie er im Dunkeln schlafen musste, während ihm die Ratten über die Füße liefen, an die Grausamkeit des Kapitäns und an seine Furcht davor, in die Takelage klettern zu müssen. Nein, er wollte nicht daran zurückdenken. Sonst fühlte er … er wusste nicht, was, aber er mochte das Gefühl nicht. Lieber lebte er in der Gegenwart, erlebte einen wunderbaren sonnigen Herbsttag in London. Im Hier und Jetzt hatte er sein Leben unter Kontrolle. Er warf der jungen Frau an seiner Seite einen Blick zu. Wirklich? »Ich verstehe einfach nicht, warum die Engländer ihre Kinder schon so jung an Fremde weggeben. Ein kleiner Junge von zehn Jahren braucht immer noch die Liebe seiner Mutter, auch wenn er sich für erwachsen hält. Wenn ich Kinder habe, werde ich sie auf keinen Fall in diesem Alter weggeben«, erklärte sie mit fester Stimme. Die Brust wurde ihm eng, und er musste schlucken. Solche Gesprächsthemen mied Hugo lieber – das alles war ihm viel zu intim. »Heute habe ich mein eigenes Zuhause«,
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