Das Geheimnis der Totenmagd
Anna am Freitagmittag durch den hohen Schnee zu dem Haus in der Kanngießergasse stapfte, in dem Meister Caldenbach seine Malerwerkstatt hatte, war sie ziemlich außer Atem, und ihr Herz klopfte bis zum Hals.
Nach einer schlaflosen Nacht in Mainz hatte sie schon am frühen Morgen das erste Marktschiff genommen, um so schnell wie möglich wieder in Frankfurt zu sein. Doch die Fahrt war nur sehr langsam vonstattengegangen. Immer wieder hatte das mächtige Schiff, beladen mit Naturalien, Waren jeglicher Art und lebenden Tieren, welche die Bauern des Umlands auf einem der Frankfurter Märkte feilbieten wollten, mit dem Eis zu kämpfen, das sich über Nacht in der Fahrrinne des Flusses gebildet hatte. Anna war ungeduldig auf dem Deck hin- und hergelaufen, weil es sie vor innerer Anspannung nicht mehr länger unten, im beheizten Passagierraum der gehobenen Klasse, gehalten hatte. Die Fahrt war ihr unendlich lange vorgekommen.
Was sie an der Medizinischen Fakultät herausgefunden hatte, war so brisant, dass sie keinesfalls bis zum Abend warten mochte, um sich mit Florian zu beraten. Sobald das Schiff am Mainkai unweit der Fahrtorpforte angelegt hatte, eilte sie zur Malerwerkstatt.
Auf Annas Klopfen hin öffnete ihr eine hochschwangere Frau mit blassem Teint die Tür und erkundigte sich nach ihrem Begehr. Als Anna sich in aller Form für die Störung entschuldigte und ihr mitteilte, sie wünsche den Meisterschüler Florian Hillgärtner zu sprechen, zog die Frau nur ein säuerliches Gesicht und geleitete die Besucherin schweigend zur Werkstatt.
»Die Jungfer möchte den Florian sprechen«, verkündete sie ihrem Mann mit hochgezogenen Brauen und entfernte sich schnell.
Meister Martin Caldenbach, ein stattlicher Mann in den besten Jahren mit einer markanten Hakennase und schulterlangen, vom ersten Grau durchzogenen Haaren, war gerade damit beschäftigt, die Hintergrundlandschaft eines großen Tafelgemäldes zu bearbeiten. Missmutig raunzte er Anna an: »Wenn Ihr meinen Meisterschüler sprechen wollt, müsst Ihr Euch schon ein paar Gassen weiterbegeben. Der sitzt im Leinwandhaus am Weckmarkt ein. Man hat ihn heute Nacht nämlich eingekerkert, weil er im betrunkenen Zustand auf offener Straße rumkrakeelt und Scheiben eingeschmissen hat. Eine wahre Zierde für unsere Malerzunft, das ist er!«, schimpfte er aufgebracht.
Anna, über die unerwartete Hiobsbotschaft erschrocken, murmelte betreten: »Das kann ich kaum glauben. Es ist gar nicht seine Art, sich so zu benehmen. Bitte entschuldigt die Störung, Meister Caldenbach, ich werde gleich zum Weckmarkt gehen.«
»Wenn Ihr ihn seht, könnt Ihr ihm bestellen, dass ich mich mit dem Gedanken trage, mich von ihm zu trennen. Es ist ohnehin zu befürchten, dass er wegen diesem Vorfall aus der Malerzunft ausgeschlossen wird. Für Trunkenbolde und Randalierer ist in unserer Innung kein Platz. Und es gereicht auch mir keineswegs zur Ehre, einen solchen Schüler zu beschäftigen.« Meister Caldenbach war vor Erbitterung rot im Gesicht geworden, und auf seiner zerfurchten Stirn zeigte sich eine tiefe Zornesfalte. Anna erwiderte tonlos, sie werde es ihm bestellen, und floh.
Als sie wenig später im Leinwandhaus dem städtischen Untersuchungsrichter Lederer gegenübersaß, tat sich dieser offensichtlich schwer damit, die Tochter des Senatsangehörigen Josef Stockarn darüber in Kenntnis zu setzen, dass es nicht erlaubt war, Inhaftierte zu besuchen, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen war.
»Könnt Ihr mir die Vorkommnisse der vergangenen Nacht vielleicht etwas genauer darlegen?«, erkundigte sich Anna kühl.
»Nun, die beiden Stangenknechte Anton Klemm und Jörg Lindemann haben zu Protokoll gegeben, kurz vor Mitternacht in der Neustadt wüste Schreie und lautes Scheppern vernommen zu haben. In der Sandgasse seien sie auf einen Betrunkenen gestoßen, der vor dem Haus unseres ehrenwerten Herrn Stadtphysikus Stefenelli herumgegrölt und dort mit Schneebällen die Fensterscheiben eingeschlagen habe. Daraufhin haben ihn die Stadtbüttel, wie es ihre Pflicht war, in Gewahrsam genommen und ihn hier im städtischen Untersuchungsgefängnis in Haft gesetzt. – Darf ich fragen, Jungfer Stockarin, was hat denn jemand wie Ihr mit so einem Taugenichts zu schaffen?«, fragte Lederer ölig.
»Das ist Euch unbenommen, Herr Untersuchungsrichter«, erwiderte Anna schnippisch. »Meisterschüler Hillgärtner, der sein Handwerk vortrefflich versteht, ist ein guter Freund der Familie und wird
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