Das Geheimnis der Totenmagd
beglücken, die uns die ewige Seligkeit schenke.
13
»Was den Raben gehört, ertrinket nicht.«
Mittelalterliches Sprichwort
Am Montagmorgen vollzog sich um den springenden Brunnen auf dem Frankfurter Römerberg ein feierliches Schauspiel. Obgleich es schon seit Stunden wie aus Kübeln regnete, schritt Stadtschultheiß Reichmann, auf der Brust die goldene Amtskette, in Begleitung aller Ratsherren dreimal gravitätisch um den Brunnen. Angeführt wurde der Zug vom Stadtherold, der die Prunkfahne mit dem Frankfurter Adler trug, dicht gefolgt von einer großen Schar Stadtpfeifer und -trommler, gewandet in den Stadtfarben Schwarz, Weiß und Rot. Dicht hinter den Honoratioren marschierten die Frankfurter Zünfte, an der Spitze die Meister, auch sie in prunkvoller Festtagskleidung. Durch die Frankfurter Altstadt zogen sie dann in Richtung Galgenpforte. Die Menschen auf den Gassen und Plätzen bildeten ein Spalier und bestaunten sie ehrfürchtig. Bald hatte der Umzug die Stadt verlassen und gelangte ins Galgenviertel.
Hier draußen vor der Stadtmauer, auf den westlich der Stadt vorgelagerten Feldern, lag das Quartier der Ausgestoßenen, mit Schenken, Bettlerherbergen, schäbigen Hütten und einem schmucken Steinhaus, in welchem der Henker mit seiner Familie lebte. In seiner direkten Nachbarschaft befand sich der »Rabenstein«, die Hinrichtungsstätte mit dem mächtigen, weithin sichtbaren Galgen, der wie ein steter dunkler Schatten auf dem ganzen Viertel lastete.
Den verdrießlichen Gesichtern der Standespersonen und ehrbaren Zunfthandwerker war anzumerken, dass ihnen der Aufenthalt in dieser übel beleumundeten Gegend wenig Behagen bereitete. Die Blicke der zerlumpten Anwohner mit ihrer Vielzahl greinender Kinder waren eher feindselig und aufsässig denn bewundernd. Man mochte sie hier draußen nicht, die hochmütigen, selbstgerechten Stadtoberen und die feisten, behäbigen Zunftangehörigen. Umgekehrt fluchten nicht wenige der wohlanständigen Bürger im Stillen über das »Lumpengesindel« und »Galgengelichter« am Wegesrand.
»Nun lasset uns also zur Tat schreiten und mit der Ehrlichmachung beginnen«, verkündete der Bürgermeister feierlich, als der Zug die Hinrichtungsstätte erreicht hatte.
Kein Handwerker hätte sich zur Arbeit an einer solch befleckten Stätte bereit erklärt, ohne zuvor diese aufwendige Prozedur erfahren zu haben. Dies hätte nämlich seine Unehrlichkeit zur Folge gehabt, und er wäre fortan des rechtschaffenen Handwerks nicht mehr fähig gewesen. Schon das Umkreisen des Römerbrunnens hatte eine Art Reinigungsakt dargestellt, dem nun noch weitere folgen mussten.
Der Bürgermeister ergriff eine Zimmermannsaxt und schlug damit dreimal auf einen der Holzstämme, die neben dem Rabenstein aufgeschichtet waren. Beim ersten Schlag rief er: »Du bist frei!«, beim zweiten: »Du bist redlich!« und beim dritten: »Du bist tüchtig!« Nach dem vierten Schlag ließ er die Axt im Holze stecken, worauf die Zimmermannsmeister, Gesellen und Lehrlinge das Gleiche taten. Ähnlich verfuhren nun auch die anderen Zünfte, die Schmiede, Tischler und Radmacher, indem zunächst der Stadtschultheiß und nach ihm die Innungsmeister und -gesellen mit ihren jeweiligen Werkzeugen auf das Baumaterial schlugen oder hämmerten.
Nachdem solcherart die Fertigstellung des schimpflichen Hochgerichts und der Folterwerkzeuge von aller Schändlichkeit gereinigt war, konnten die Handwerker mit ihrer Arbeit beginnen. Den ganzen Tag über hackten und sägten, klopften und hämmerten sie pausenlos, bis am Abend das von vier massiven, drei Meter hohen Holzpfosten getragene Hinrichtungspodest schließlich fertig war. Einer Bühne gleich, war das Schafott, auf dem am nächsten Tag Heinrich Sahls Hinrichtung stattfinden sollte, mit soliden vernagelten Holzbrettern bedeckt. Exakt in der Mitte, erhaben auf acht ellenlangen Holzkeilen liegend und somit für das Hinrichtungspublikum von allen Seiten gut erkennbar, befand sich ein eisenbeschlagenes, hölzernes Richtrad von zwei Metern Durchmesser, welches mit dreizehn Speichen versehen war. Zur zusätzlichen Stabilisierung lag die Radnabe auf einem dicken Holzpfosten, der gewährleistete, dass das Foltergerät selbst roher Gewalt standhalten würde.
Als die letzten Schläge getan waren, sammelten die jüngsten Lehrburschen die gebrauchten Handwerkszeuge ein und warfen sie sich mit dem Ausruf »Mit Bösem muss man Böses vertreiben!« über die linke Schulter auf den Boden, wo sie
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