Das Geheimnis des Falken
Verwandten würden sich in ihren Hotels oder Privatzimmern langweilen müssen. Ich hoffte von Herzen, schon im Hinblick auf den armen Signor Longhi und sein Hotel del Duchi, daß wenigstens die Studenten, deren Angehörige sich für ihr gutes Betragen verbürgten, Erlaubnisscheine erhielten.
»Völlig kindisch!« kommentierte ein verärgerter Vater, der mehr als zweihundert Kilometer am Steuer gesessen hatte, »mein Sohn bekommt morgen mit Sicherheit ein Diplom mit Auszeichnung, und die Behörden versteifen sich darauf, ihn wie ein Kleinkind zu behandeln.«
Geduldig erklärte der Angestellte noch einmal, daß es sich um Beschlüsse des Universitätsrates handle und daß sich die Studenten die Sache durch ihr liederliches Benehmen selbst eingebrockt hätten. Der empörte Vater schnaubte in wütender Verachtung. »Liederliches Benehmen? Ein gesunder kleiner Spaß!« erklärte er. »Haben wir es in unserer Zeit denn anders gemacht?«
Er sah sich Zustimmung heischend um. Nicht ohne Erfolg. Die Eltern und Angehörigen, die da Schlange standen, waren sich einig in ihrer Entrüstung über die Behörden, die fünfundzwanzig Jahre hinter der Zeit herhinkten.
»Gehen Sie getrost essen mit Ihrem Sohn«, empfahl der gepeinigte Angestellte, »aber liefern Sie ihn um neun Uhr im Studentenheim ab, oder an seiner Haustür, falls er in der Stadt wohnt. Morgen und übermorgen werden Sie zum Feiern soviel Gelegenheit haben, wie Sie wollen.«
Einer nach dem anderen zogen die Verwandten wieder ab, gefolgt von übellaunigen, schimpfenden jungen Leuten. Die Studenten, die keine Familie und deshalb auch keine Aussicht auf besondere Vergnügungen hatten, sahen mit höhnischen Gesichtern zu.
Ich schob den Kopf durch das Schiebefenster des Sekretariats, ohne mir große Hoffnungen zu machen.
»Mein Name ist Fabbio«, sagte ich, »Armino Fabbio. Ich bin Assistent in der Bibliothek und habe von Professor Donati eine Einladung für die Versammlung, die heute abend um neun im Palazzo Ducale stattfindet.«
Zu meiner Überraschung zog der Mann sofort eine Liste zu Rate.
»Armino Fabbio«, sagte er, »das geht in Ordnung. Ihr Name steht auf der Liste.« Er reichte mir einen Schein. »Vom Direktor des Kunstrats persönlich unterzeichnet.« Dabei verstieg er sich sogar zu einem Lächeln.
Ich nahm den Schein und verdrückte mich, bevor der nächststehende Vater in der Schlange zum Protestieren kam.
Auf alle Fälle hatte ich an Ansehen gewonnen.
Nächstliegende Frage: Wo sollte ich essen gehen? Ich hatte keine Lust, mir in den wenigen, ohnehin überfüllten Restaurants der Stadt einen Platz zu erkämpfen oder mich an den Pensionstisch der Silvanas zu begeben. So beschloß ich, mein Glück in der Mensa zu versuchen.
In der Mensa gab es nur Stehplätze, aber das machte mir nichts aus. Mit einer Tasse Suppe und einer Portion Salami, die eine angenehme Abwechslung gegenüber dem Polypenragout vom letzten Abend bildeten, hatte ich den ärgsten Hunger schnell gestillt.
Die Masse der Studenten war so damit beschäftigt, ihr Essen zu bewältigen und auf das verhaßte Ausgehverbot zu schimpfen, daß niemand auf mich achtete oder daß man mich als ein minderes Mitglied des Universitätsrates stillschweigend duldete. Ich spitzte beide Ohren und verstand soviel, daß die allgemeine Meinung dahin ging, man solle sich für eine derartige Behandlung dadurch rächen, daß man Donnerstag und Freitag nacht die gesamte Stadt rot anstreiche. Dann würde der Teufel los sein …
»Sie können gar nichts machen!«
»Sie können uns nicht alle auf einmal davonjagen!«
»Ich habe mein Diplom bis dahin sowieso in der Tasche. Dann sollen sie mich alle gernhaben!«
Einer der lautesten Schreier stand am anderen Ende meines Tisches. Glücklicherweise drehte er mir den Rücken zu. Es handelte sich nämlich um den Burschen, der mich am Montagnachmittag hatte in die Fontäne werfen wollen.
»Ich lasse mir das einfach nicht bieten«, proklamierte er. »Mein Vater hat eine Bombenposition in Rimini, und wenn es Ärger gibt, braucht er nur an seinen Drähten zu ziehen, damit einige der Herren Professoren vom Universitätsrat fliegen. Ich bin zweiundzwanzig. Man kann mich nicht behandeln wie einen Zehnjährigen. Wenn mir danach ist, werde ich mich um das Ausgehverbot den Teufel scheren und bis Mitternacht spazieren gehen. Außerdem gilt das Verbot ohnehin nicht für WW-Studenten, sondern nur für all diese kleinen Pauker, die Latein und Griechisch büffeln und im
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