Das Geheimnis des Falken
hatte sie mehr als zwanzig Jahre nicht gesehen. Aber es war Marta.
3. Kapitel
Ich hätte sprechen sollen, während die Polizeioffiziere die englischen Lehrerinnen verhörten.
Die Gelegenheit wäre da gewesen, als sie fragten, ob wir die Frau bei der Rückkehr von unserer Tour ›Rom bei Nacht‹ noch auf den Kirchenstufen gesehen hätten. Diesen Augenblick hätte ich wahrnehmen und sagen müssen: »Ja, jawohl. Ich habe sie gesehen. Ich ging die Straße hinunter, und sie war dort, und ich überquerte die Straße und steckte ihr einen Zehntausend-Lire-Schein in die Hand.«
Ich konnte mir den überraschten Blick des Polizeioffiziers vorstellen.
»Einen Zehntausend-Lire-Schein?«
»Ja.«
»Um welche Zeit war das?«
»Kurz nach Mitternacht.«
»Hat irgend jemand von der Gruppe Sie gesehen?«
»Nein.«
»War das Geld ihr Privateigentum, oder gehörte es zum Barfonds der ›Sonnenreisen‹?«
»Ich hatte es gerade geschenkt bekommen. Ein Zeichen der Anerkennung.«
»Sie meinen, ein Trinkgeld?«
»Ja.«
»Von einem Ihrer Reisenden?«
»Ja. Aber wenn Sie ihn fragen, wird er es abstreiten.«
Dann würde der Polizeioffizier die beiden Engländerinnen ersucht haben, uns allein zu lassen. Das Verhör wäre, in schärferer Form, weitergegangen. Erstens konnte ich keinen Zeugen dafür beibringen, daß der einsame Amerikaner mir das Geld geschenkt und mich in sein Zimmer heraufgebeten hatte. Überdies aber gab es kein plausibles Motiv dafür, daß ich das Geld weggegeben hatte. Nichts war plausibel, aber auch gar nichts!
»Sie sagen, daß Ihnen ein Altarbild in den Sinn kam, vor dem Sie sich als Kind gefürchtet haben?«
»Ja.«
»Und deshalb beschlossen Sie, einer unbekannten Frau zehntausend Lire zuzustecken?«
»Es ging alles so schnell. Ich kam gar nicht zum Überlegen.«
»Ich nehme an, daß Sie niemals einen Zehntausend-Lire-Schein in Ihrem Besitz gehabt haben und daß Sie diese Geschichte jetzt erfinden, weil Sie sich einbilden, sich dadurch ein Alibi zu verschaffen.«
»Ein Alibi – wofür?«
»Ein Alibi für die Mordtat.«
Ich bezahlte meinen Drink und ging weiter hinaus auf die Straße. Es hatte angefangen zu regnen. Schirme schossen rechts und links wie die Pilze empor, und Mädchen mit bespritzten Beinen liefen mir in die Arme. Touristen standen, vom Regen überrascht, zusammengerottet in Toreinfahrten, und der Verkehr strömte gleichgültig vorbei. Meine Lehrerinnen waren in den Englischen Teestuben gut aufgehoben, und sicherlich hatte Mr. Hiram Bloom angesichts des schlechten Wetters, das schon den ganzen Nachmittag gedroht hatte, seine Gefolgschaft vom Forum, das keinen Schutz bot, zurück zu Beppo und in den wartenden Bus gescheucht.
Ich schlug meinen Mantelkragen hoch, zog mir den Hut ins Gesicht und trabte meines Weges, durch die Seitenstraßen der Via del Tritone in Richtung auf das römische Büro der ›Sonnenreisen‹. Es war fast vier Uhr, und mit ein wenig Glück würde ich meinen Kollegen Giovanni an seinem Platz finden, obwohl er die Mittagspause kräftig auszudehnen liebte.
Ich hatte Glück. Er saß auf seinem Platz hinten in der Ecke und redete wie üblich das Telefon in Grund und Boden.
Als er mich sah, grüßte er mit der Hand und zeigte auf einen Stuhl. Das Büro war relativ leer, abgesehen von einer Handvoll Touristen, die sich geduldig vor dem Mittelschalter drängten und Reisetermine oder Hotelbestellungen geändert haben wollten. Der übliche Routinekram.
Giovanni legte auf, schüttelte mir die Hand und lächelte. »Sollten Sie nicht schon in Neapel sein?« fragte er, »aber nein, was rede ich – Neapel ist ja erst morgen fällig. Ein Glück für Sie und Ihren kleinen Trupp. Tom wird von Tag zu Tag unmöglicher. Gute Reise gehabt?«
»So, so. Ich kann nicht klagen. ›Barbaren‹ und ›Beef-Esser‹, alle sehr umgänglich.«
»Hübsche Mädchen?«
»Nichts, um den Blutdruck in die Höhe zu treiben. Außerdem hat unsereins keine Zeit. Sie sollten mal den Reiseleiter spielen!«
Er lachte kopfschüttelnd: »Na schön, was kann ich für Sie tun?«
»Giovanni … Ich brauche Ihre Hilfe. Ich habe Schwierigkeiten.«
Er sah mich teilnehmend an.
»Ich wollte Sie bitten«, erklärte ich, »einen Vertreter zu beschaffen, der statt meiner die Reise nach Neapel übernimmt.«
Er fuhr auf. »Aber das ist ganz unmöglich! Zumindest im Augenblick. Hier in Rom habe ich niemanden. Im übrigen, das Zentralbüro …«
»Das Zentralbüro braucht davon nichts zu wissen.
Weitere Kostenlose Bücher