Das Geheimnis des Felskojoten (German Edition)
Bergen hätte ich sie nicht erwartet.«
Shane lachte auf.
»Kojoten sind überall zu Hause. Sie sind ungemein anpassungsfähig, richtige Überlebenskünstler.«
Serena erinnerte sich an die Zeitung, die sie auf dem Flughafen in New York gekauft hatte.
»Stimmt, du hast recht. Ich habe in New York in der Zeitung gelesen, dass es seit Neuestem sogar auf Long Island Kojoten gibt. Die Anwohner waren sehr in Sorge.«
»Das kann ich mir vorstellen«, grinste Shane. Dann fügte er hinzu: »Bei meinem Volk hat ein jedes Tier seine Aufgabe, seine Rolle, und es gibt viele altüberlieferte Geschichten, die ihren Charakter aufzeigen. Der Kojote gilt bei uns als Schelm, als jemand, der andere gerne austrickst und es auch bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bietet, versucht. Er wird aber auch als Sinnbild des allumfassenden Wissens verstanden, als jemand, der alle Tricks kennt, dem nichts neu ist, dem man nichts vormachen kann. Und als jemand, der Veränderung bringt – in allen erdenklichen Formen.«
Shane warf Serena einen kurzen Blick zu. »In gewisser Weise ist der Kojote auch ein Kämpfer für die Freiheit. Er greift die moderne Gesellschaft an, stiehlt Katzen, kleine Hunde, Hühner und Abfall, um zu überleben – alles, was er in die Finger bekommen kann –, und verschwindet dann wieder wie ein Schatten in der Wildnis.«
»Wie ein Terrorist«, stellte Serena fest.
Shane lächelte.
»Genau, wie ein Terrorist. Und so wird er von der modernen Gesellschaft auch behandelt. Aber nun komm, ich glaube, wir sind beinahe am Ziel.«
Ein paar Minuten später erreichten sie das Ende des Pfades. Ein riesiges Plateau breitete sich vor ihnen aus. Serena blickte sich staunend um. Nicht viele der anderen Berggipfel waren höher als der Gipfel des Medicine Mountain, auf dem sie sich jetzt befanden. Der Himmel schien zum Greifen nah. Serena wusste nicht, ob es an den dunklen Wolken lag oder daran, dass sie sich auf 3000 Meter Höhe befanden.
Eine beinahe geheimnisvolle Stille hing über dem Plateau, und Serena hätte auch ohne einen Blick hinter den Maschendrahtzaun oder auf die wenigen anderen Besucher gewusst, dass sie am Ziel ihrer Reise angelangt waren.
Aus Gewohnheit griff sie nach ihrer Kamera, um ihren Besuch an diesem besonderen Ort festzuhalten, aber Shane schüttelte den Kopf.
»Nicht jetzt.«
Serena steckte die Kamera zurück in ihre Umhängetasche.
»Können wir näher herangehen?«, fragte sie gespannt.
Shane nickte.
Sie traten an den Zaun, der das medicine wheel umgab. Er war – wie zuvor die Bäume und Büsche auf dem Bear Butte – mit prayer offerings übersät, Opfergaben, die die Gebete verstärken sollten. Die bunten Stoffbeutelchen ähnelten den prayer ties, waren aber etwas größer. Sie wehten sachte im kalten Wind.
Serena betrachtete das komplett aus Steinen angelegte Muster im Inneren des Zauns mit Ehrfurcht. Es war ein großer Kreis, ungefähr fünfundzwanzig Meter im Durchmesser. In seiner Mitte befand sich ein kleinerer Kreis, vielleicht vier Meter groß und sechzig Zentimeter hoch. Die beiden Kreise waren durch achtundzwanzig speichenartige Linien miteinander verbunden. Am äußeren Kreis waren in gleichmäßigem Abstand zueinander sechs weitere kleine Steinkreise angeordnet. Die meisten schienen groß genug, dass ein Mensch darin sitzen konnte.
Eine unerklärliche Anziehungskraft lag über der Stätte.
Das also ist ein Medizinrad , dachte Serena beeindruckt.
»Warum der Zaun?«, fragte sie leise. »Er lässt diesen heiligen Ort wie ein Gefängnis aussehen.«
»Du hast recht«, sagte Shane. »Der Zaun ist schrecklich. Und nicht nur das: Er hindert auch diejenigen daran, die es wirklich nötig haben, hier zu beten, ihre Worte an Great Spirit und die Geister an der richtigen Stelle zu sprechen. An der Stelle, an der unsere Vorfahren es seit langer, langer Zeit getan haben. Aber gäbe es den Zaun nicht, dann wäre kein Stein des Medizinrads mehr an seinem Platz. Die New-Age-Anhänger hätten sie längst als spirituelle Andenken mit nach Hause geschleppt.«
»Ich verstehe«, erwiderte Serena betrübt. Aber sie fand es trotzdem mehr als bedauerlich, dass die Indianer ihre heilige Stätte nur durch einen Maschendrahtzaun benutzen konnten. Sie seufzte. Unzählige andere Fragen stiegen in ihr auf. Doch eine drängte sich jetzt unweigerlich in den Vordergrund. Es war der Grund für ihr Kommen. War Fabian hier?
Serena sah sich aufmerksam um, konnte jedoch keine Spur von ihrem Bruder entdecken. Sie
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