Das Geheimnis des Feuers
der Laster an. Sofia brauchte sich nicht auf ihren Krücken abzustützen. Sie stand eingekeilt zwischen zwei dicken Frauen, die große Körbe auf ihren Köpfen balancierten. Sofia war froh, dass sie von so vielen Menschen umgeben war. Sie wollte nicht mehr an die große Einsamkeit denken, die sie so lange hatte ertragen müssen. Um ihren Kopf wehte ein frischer Wind.
Der Laster hüpfte und schaukelte und schwankte. Bald hatten sie die Außenbezirke der Stadt erreicht und der Laster wurde schneller. Hin und wieder hielt er an, um Leute aussteigen oder neue einsteigen zu lassen. Sie fragte eine der dicken Frauen an ihrer Seite, ob es noch weit bis Boane war.
»Erst müssen wir noch über die Brücke«, antwortete die Frau. »Dann geht es einen Hügel hinauf. Und einen Hügel hinunter. Dann sind wir da.«
Sofia schloss die Augen und spürte den Wind in ihrem Gesicht. Eigentlich müsste sie schon überlegen, wie sie nach Hause finden sollte, wenn sie in Boane ausgestiegen war. Und wie sie dann zurück in die Stadt gelangen sollte, wo sie doch kein Geld für die Fahrkarte hatte. Aber das war ihr jetzt egal. Muazena hatte ihr erzählt, dass es zwischen den Geheimnissen des Feuers auch Lösungen für viele Probleme gab. Sofia war sicher, dass sie irgendwo ein brennendes Feuer finden würde, an das sie sich setzen könnte, um in die Flammen zu schauen.
Der Laster bremste und rutschte am Straßenrand entlang. Sie waren da. Viele wollten aussteigen und Sofia wurde hin und her gestoßen. Dann warf sie die Krücken auf die Erde und kräftige Arme halfen ihr von der Ladefläche herunter. Sie wusste, in welche Richtung sie gehen müsste. Da die Sonne sehr stark brannte, wickelte sie ein Stück Stoff um ihren Kopf. Dann ging sie los. Die Krücken versanken im Kies und es war anstrengend sich vorwärts zu bewegen. Aber sie biss die Zähne zusammen und kämpfte sich weiter voran. Sie wusste, dass der Weg lang war. Im starken Sonnendunst sah sie die Konturen der Berge am Horizont flimmern. Schon das gab ihr ein Gefühl, zu Hause zu sein. Es waren die Berge, die Maria und sie immer gesehen hatten, wenn sie morgens zu den Äckern liefen. Als sie ganz verschwitzt vom Gehen war, blieb sie im Schatten eines Baumes stehen und aß das Stück Brot. Sie bereute, dass sie kein Wasser mitgenommen hatte. Ehe sie zu Hause ankam, würde sie sehr durstig sein. Ihre Oberschenkel und das linke Knie taten weh. Aber sie hatte keine Zeit sich auszuruhen. Sie müsste weiter. Hin und wieder fuhr ein Auto an ihr vorbei. Aber niemand hielt an, um sie zu fragen, ob sie mitfahren wollte.
Erst spät am Nachmittag erreichte Sofia das Dorf. Da war sie fast am Ende vor Müdigkeit und Durst. Am Dorfrand gab es einen Brunnen. Nach dem hatte sie sich schon seit Stunden gesehnt. Dort standen viele Frauen und Kinder mit Plastikbehältern und warteten darauf, dass sie an der Reihe waren. Viele kannten Sofia, viele glaubten, sie wäre vielleicht schon gestorben, und jetzt freuten sie sich sie wieder zu sehen. Sie bekam Wasser zu trinken und sie setzte sich auf den Brunnenrand um sich auszuruhen. Jemand gab ihr Obst und alle fragten nach der Stadt und wollten ihre Beine sehen. Ohne dass Sofia es merkte, lief jemand zu Lydias Hütte und erzählte, dass Sofia nach Hause gekommen war.
Sie begegneten sich, als Sofia den Brunnen verlassen hatte, um das letzte Stück zu gehen. Plötzlich sah sie Lydia zusammen mit Alfredo auf sich zukommen. Lydia schien fast erschrocken zu sein sie zu sehen. Sie streichelte ihre Arme und fragte, ob das Krankenhaus sie weggeschickt habe. »Ich wollte euch nur besuchen«, sagte Sofia. »Morgen muss ich wieder zurück.«
»Bist du den ganzen Weg gelaufen?«, fragte Lydia. »Das muss ja mehrere Tage gedauert haben.«
»Ich bin mit einem Laster gefahren«, sagte Sofia. »Ich habe eine Fahrkarte gekauft.« Sie sagte nicht, dass sie kein Geld für die Rückfahrt hatte. Dann würde Lydia sich nur noch mehr Sorgen machen. Sofia hatte noch nie verstanden, wieso sich Erwachsene immer Sorgen wegen Problemen machten, die erst später, an einem anderen Tag, gelöst werden mussten.
Als sie nach Hause kamen und Sofia sich auf die Bastmatte gesetzt hatte, war sie so müde, dass sie sich am liebsten ausgestreckt hätte. Aber die ganze Zeit kamen Leute zu Besuch, alle wollten sie begrüßen. Wieder und wieder musste sie von der Zeit im Krankenhaus erzählen, von der großen Stadt, und ihre Beine zeigen. Sie vergaß die Müdigkeit und spürte die Freude,
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