Das Geheimnis Des Frühlings
die mir gestern gekommen war. »Die goldene Platte bei dem Festmahl war für uns alle drei gedacht - die Ehrenportion für die gastgebende Familie.«
Er nickte verstehend. »Dann müssen wir dem Herrn danken, dass keiner von uns beiden davon gegessen hat; Ihr nicht, weil Ihr sie nicht mögt, und ich habe sie wegen meines Fastens nicht angerührt. Der Heilige hat mich gerettet.«
Vielleicht. Doch ich erschauerte bei dem Gedanken, wie nahe er daran gewesen war, die Austern zu verzehren, die ich für sein Frühstück aufgehoben hatte. Nur Toks Auftauchen hatte ihn davor bewahrt, dasselbe Schicksal wie sein Onkel zu erleiden. Welch eine Ironie, dass Tok von Niccolo ausgesandt worden war, um uns zu töten; von Niccolo, der, wäre er ein pflichtbewusster Sohn gewesen, das Fest besucht, von derselben Platte gegessen und ebenfalls gestorben wäre. Madonna . Die Mathematik des Mordens verursachte mir Kopfschmerzen.
Bruder Guido ergriff erneut das Wort. »Wenn sie auf diese Weise keinen Erfolg gehabt hätten, hätten sie ihn anderweitig beseitigt. Und jetzt, da wir unsere Audienz bei Lorenzo, dem einzigen Mann, der uns helfen könnte, nicht mehr wahrnehmen können, weiß ich nicht weiter. Ich weiß auch nicht, wo ich Euch hinbringen könnte. Wir treiben hilflos dahin, sowohl literarisch als auch metaphorisch. Wir sind ein Blatt im Strom, und wir können uns nur in Gottes Hand geben.«
Ich hatte nicht die Absicht, Gott die Entscheidung über unser weiteres Schicksal zu überlassen. »Wir dürfen nicht aufgeben«, versetzte ich. »Es muss doch irgendeinen Ort geben, wo wir hingehen können.«
Bruder Guido sah mir ins Gesicht. In seinen Augen glühte kein Kampfgeist mehr, stattdessen lag eine trostlose Resignation
darin. »Nein«, sagte er. »Es ist vorbei. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht.«
In der Hoffnung, doch noch eine Lösung zu finden, blickte ich mich verzweifelt nach allen Seiten um, konnte aber nur die Umrisse der dunklen Häuser sehen, die den Arno säumten. Dann flammte plötzlich wie die Nadelspitze des Polarsterns ein Licht in einem Fenster auf. Dann ein weiteres. Und plötzlich flackerten entlang beider Ufer in jedem Fenster, jeder Tür, auf jeder Terrasse und jedem Balkon Fackeln oder Kerzen. Jede Lampe wurde entzündet, jedes Binsenlicht, jede Zunderbüchse. Konnte das etwas mit uns zu tun haben? Konnte das der Beginn der Treibjagd sein, zu der Tok geblasen hatte, um uns zu finden? Nein, sicherlich nicht, denn die ganze Stadt war mit einem Mal hell erleuchtet. Und dann fluteten Lichter über den Fluss hinweg wie auf dem Wasser treibende Sterne, denn die Menschen am Ufer schickten kleine Papierboote auf die Reise, die alle eine brennende Kerze trugen. Diese märchenhafte Flotte glitt zusammen mit Bruder Guido und mir flussabwärts, bis uns die kleinen Flammen umgaben wie feurige Lilienblüten. Trotz unserer misslichen Lage lächelte ich entzückt und sah, dass Bruder Guido dasselbe tat. »Ist das unser Wunder?«, fragte ich ihn.
»In gewisser Weise«, entgegnete er. »Es ist das Lichterfest Luminara, dass jedes Jahr am Abend des Ranieri-Tages gefeiert wird. Ich hätte daran denken sollen...«
Er brach ab, als wären ihm die Worte in der Kehle stecken geblieben, und ich kroch zu ihm, wobei ich vor Schreck mein Ruder losließ. Ich hatte Angst, ihn könne der Schlag getroffen haben. Er mochte ja bei ernsten Problemen immer gleich die Flinte ins Korn werfen, aber er war der einzige Verbündete, der mir auf dieser Welt geblieben war. Im goldenen Schein von Millionen von Lichtern konnte ich sehen, wie blass er plötzlich geworden war. »Was ist?« Als er keine Antwort gab, packte ich ihn bei den Schultern und schüttelte ihn wie eine Flickenpuppe. »Bruder Guido? Was ist?«
»Das Licht.« Er richtete seine Augen auf mich, die jetzt heller leuchteten als jede Fackel in Pisa in dieser Nacht. »Folge dem Licht! Mein Onkel zeigt uns den Weg. Seine letzten Worte bezogen sich auf unseren einzigen möglichen Fluchtweg.«
Mein Herz begann erneut zu hämmern. »Aber wo treiben die Lichter denn hin? Wohin führen sie uns?«
Er deutete flussabwärts. »Zum Meer«, erwiderte er schlicht, während wir den unzähligen Lichterschiffchen folgten.
Doch noch ehe die Stadtglocke die nächste Viertelstunde eingeläutet hatte, erkannten wir, dass unser Ziel nicht das offene Wasser war, sondern näher lag. Ein Trick der Strömung bewirkte, dass sich die Papierschiffe in einer Art Mühlgerinne sammelten, das wie ein See am
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