Das Geheimnis von Winterset
Sie wissen doch, wie er ist." Arthur nickte bedeutungsvoll und sah die Geschwister ernst an. „Machen Sie sich keine Sorgen - ich kümmere mich schon um ihn. Niemand wird je von ihm erfahren, und er wird nie jemandem etwas zuleide tun."
„Bist du nun ein wenig beruhigt?", fragte Kit, als er und Anna sich auf dem Rückweg vom Versteck ihres Onkels befanden.
„Ja, ein bisschen", meinte Anna. „Zumindest hat Arthur uns versichert, dass Onkel Charles in letzter Zeit ausgeglichener war. Wenn er gerade jemanden umgebracht hätte, den er für einen Spion der Königin hält, wäre er sicher ganz aufgeregt."
„Es wäre Arthur aufgefallen, wenn Onkel Charles sich anders als sonst benommen hätte. Er ist ihm zwar treu ergeben, aber ich glaube nicht, dass er einen Mord decken würde."
Vorsichtig bahnten sie sich ihren Weg den Abhang hinunter. Als sie unten angekommen waren, seufzte Anna und sagte: „Es macht mich jedes Mal traurig, ihn so zu sehen. Erinnerst du dich noch daran, wie er früher war? Er hatte dieses Bonbonglas in seinem Arbeitszimmer stehen, aus dem wir uns immer etwas nehmen durften."
Kit lächelte wehmütig. „Ja, daran erinnere ich mich noch. Es ist wirklich ein Jammer." Er schwieg einen Moment und fuhr dann nachdenklich fort: „Was mir wirklich Angst macht, ist... Was ist, wenn es mir später einmal genauso ergeht wie ihm?"
„Ich weiß, der Gedanke ist unerträglich. Ich denke auch häufig daran."
Der Wahnsinn ihres Onkels hatte sich erst im Erwachsenenalter bemerkbar gemacht, und auch dann waren seine
„Anfälle" zunächst nur gelegentlich aufgetreten. Während seiner „guten Tage" war er völlig normal gewesen. Doch allmählich traten seine Anfälle in immer kürzeren Abständen auf, und sein Verhalten wurde immer absonderlicher, bis es sich schließlich nicht mehr vor den Dienstboten verbergen ließ. Zu seinen Eigentümlichkeiten gehörte letztlich auch, unter freiem Himmel leben zu wollen, und von diesem Zeitpunkt an hielt Annas Vater es für angebracht, Lord de Winters Geisteszustand lieber vor der Welt zu verbergen.
Anna war es unmöglich, nicht bei sich und Kit nach ersten Anzeichen des Wahnsinns Ausschau zu halten und jede ein wenig wunderliche Eigenart sogleich als den Anfang vom Ende zu deuten. Wie ein roter Faden zog sich dieses drohende Verhängnis durch ihr ganzes Leben, und jeden Tag war sie sich erneut der Tatsache bewusst, dass sie und Kit einmal das Schicksal ihres Onkels ereilen könnte.
Schließlich hatten sie wieder Holcomb Manor erreicht und sahen zu ihrer Verwunderung die Kutsche von Kyria McIntyre vor dem Haus stehen. Kyria und ihre Freundin Rosemary saßen im Salon und tranken Tee, den der Butler eiligst hatte servieren lassen.
„Kyria!", rief Anna, als sie und Kit den Raum betraten. „Welch eine schöne Überraschung."
„Sie werden mich sicher für sehr unhöflich halten, weil ich darauf bestanden habe, hier auf Sie zu warten. Aber Ihr Butler meinte, Sie seien schon vor einiger Zeit zu Ihrem Spaziergang aufgebrochen, und ich hoffte, dass Sie daher bald zurück sein würden."
„Ich halte Sie keineswegs für unhöflich", beruhigte Anna sie. „Ich bin sogar froh, dass Sie gewartet haben. Kann ich Ihnen außer Tee noch etwas anbieten?"
„Oh, nein danke", sagte Kyria vergnügt. „Ihr Butler hat uns schon alles angeboten, was die Speisekammer zu bieten hat, nur haben wir recht spät gefrühstückt."
Während Kyria und Anna sich unterhielten, nutzte Kit die Gelegenheit, mit Rosemary Farrington zu sprechen und vorzuschlagen, ihr den Garten von Holcomb Manor zu zeigen. Miss Farrington errötete ein wenig, zögerte aber nicht, das Angebot anzunehmen. Als die beiden rasch nach draußen verschwanden, sah Kyria ihnen einen Augenblick lang nach.
„Mir scheint", sagte sie und wandte sich lächelnd an Anna, „dass Ihr Bruder und Miss Farrington eine gewisse Zuneigung zueinander entwickeln."
„Miss Farrington ist eine sehr nette junge Frau", erwiderte Anna unverbindlich.
„Leider werde ich den beiden die Freude ein wenig verderben müssen."
Anna sah Kyria fragend an.
„Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir so bald wie möglich nach London zurückkehren - wahrscheinlich schon morgen Nachmittag."
Bei der Vorstellung, dass Reed nicht mehr hier sein würde, wurde Anna ganz beklommen ums Herz. Zwar wusste sie, dass dies für sie beide am besten wäre, doch die Zukunft erschien ihr dadurch auf einmal wieder leer und freudlos. Trotzdem gelang es ihr, eine
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