Das geraubte Paradies
aufgegebenen Herberge einen Schlafplatz suchten und dort die Nacht verbrachten. Das Abendessen fiel spärlich aus, da ihr Proviant so gut wie erschöpft war, Jonan ihn aber unbedingt noch so weit rationieren wollte, dass sie einen weiteren Tag damit auskamen. Spätestens übermorgen würden sie dann wieder im Wald nach etwas Essbarem suchen müssen.
Der nächste Morgen begrüßte sie mit grauen, regengeschwängerten Wolken, und eine kühle Brise wehte um die Berge. Auch einzelne Sonnentage konnten immer weniger verhehlen, dass der Herbst nahte. Wo auch immer das letztendliche Ziel ihrer Reise liegen mochte, es war wichtig, dass sie es in den nächsten zwei Monaten erreichten – bevor der Winter über das Land kam und es abseits der kleinen Zivilisationsinseln so gut wie unmöglich wurde zu überleben.
Sie setzten ihren Weg fort, den Blick nach links auf die majestätisch aufragenden Berge gerichtet, immer in der Hoffnung, einen Pass zu entdecken, der sie an den Ort bringen könnte, den sie hinter dieser natürlichen Mauer vermuteten.
Bereits nach einer Wegstunde entdeckten sie eine kleinere Straße, die an den Bergen entlang mitten durch die Wildnis nach Südwesten führte. Sie entschlossen sich, das Risiko einzugehen, und wandten ihre Schritte in diese Richtung, statt auf der größeren Handelsstraße zu bleiben. Sie wanderten in ein Tal hinein, das vielleicht einen Kilometer breit sein mochte und sich zwischen dem Hauptmassiv zur Linken und einer Kette bewaldeter Vorberge zur Rechten erstreckte. Hoch wachsende Wildwiesen und Haine aus dicht beieinanderstehenden Laubbäumen umgaben sie, und immer wieder kamen sie an kleinen, unbewohnten Siedlungen vorbei. Vor dem Sternenfall und den Dunklen Jahren musste die Gegend ein Ort gewesen sein, der eine beinahe kitschige Idylle ausgestrahlt hatte.
Am späten Nachmittag erlebten sie eine Überraschung. Auf einer Weide unweit eines Gehöfts sahen sie Kühe und Schafe grasen. Daneben erstreckte sich eine kleine Obstbaumplantage. Und etwas weiter talabwärts schienen bestellte Felder zu liegen. Allein der Gedanke an all das Essen, das es hier geben musste, sorgte dafür, dass sich Jonans Magen vernehmlich zu Wort meldete.
»Schaut euch das an!«, entfuhr es Pitlit ungläubig. »Am Ende der Welt leben wirklich Menschen.«
»Und das offenbar gar nicht allzu schlecht«, fügte Jonan hinzu.
»Vielleicht sind sie bereit, uns etwas von ihren Vorräten zu verkaufen?«, sagte Carya.
Jonan verzog missmutig das Gesicht. »Wenn wir bloß etwas hätten, das wir ihnen anbieten könnten – außer den Medikamentenresten von Denier und meinem Gewehr.«
Carya warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Dein Schnitt verheilt mittlerweile gut und auch die kleineren Verletzungen machen keinen Ärger mehr. Ich denke, dass wir es uns leisten können, uns von Deniers Erste-Hilfe-Set zu trennen. Zumal wir es auch nicht mehr benötigen würden, wenn wir dort draußen am Berg verhungern.«
»Auch wieder wahr. Also gehen wir mal hinüber. Aber haltet die Augen offen. Es soll Leute geben, die unerwünschte Besucher mit dem Gewehr begrüßen.« Er dachte da unter anderem an Luceno auf der Insel der Invitros nördlich von Arcadion.
Vorsichtig näherten sie sich dem Gehöft, das aus einem Wohngebäude und einigen dahinter liegenden Scheunen und Ställen bestand. Alle Gebäude sahen erstaunlich gut instand gehalten aus. Wer auch immer hier wohnte, kümmerte sich offensichtlich mit viel Eifer und Mühe darum, dass nichts verfiel oder verwilderte.
Als sie sich dem Anwesen auf etwa hundert Meter genähert hatten, brach unvermittelt heftiges Hundegebell los. Drei schwarzbraune Schäferhunde tauchten im Eingang des Hofs auf. Sie machten keine Anstalten, auf Jonan und die anderen loszugehen. Aber sie zogen sich auch keinen Meter zurück. Elje drängte sich furchtsam an Jonans Seite, der seinerseits sein Gewehr fester griff. Es mochte keine Patrone mehr im Magazin stecken, aber ein zehn Kilogramm schwerer Knüppel würde auch einem übereifrigen Hund zu denken geben.
Ein scharfer Befehl rief die Tiere zur Ordnung. Im Türrahmen des Haupthauses tauchte ein kräftiger, wettergegerbt aussehender Mann auf. Seine Haut war gebräunt, und sein grau meliertes Haar wies einen beinahe militärisch kurzen Schnitt auf. Überhaupt erinnerte der Mann Jonan an einen Soldaten, was womöglich an seiner wachsamen Haltung und dem forschenden Blick lag. Vielleicht war auch das Templersturmgewehr schuld daran, das mit
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