Das Gesetz des Irrsinns
nach genau studierten Vorbildern in unseren belgischen wie in führenden niederländischen Museen.
Professor M. H. de Marneffe war schon rein äußerlich eine autoritätsheischende Erscheinung: hochgewachsen, mit dem markanten Schädel eines ranghohen Offiziers, das weiße Haar kurz gehalten; in der Außen-Brusttasche des meist dunklen Jacketts das korrekt gefaltete Seidentüchlein; ein Seidentuch auch zwischen Hals und Hemdkragen, wenn er ausnahmsweise mal leger auftrat; ansonsten ein heller Seidenshawl, scheinbar lässig über dem Jackenrevers. Eine, wie es hieß, untadelige Erscheinung, von hohem Rang und bestem Ruf unter Kunstgeschichtlern, sofern sie nicht direkt oder indirekt mit ihm konkurrierten. Ihn begleitete der Ruf, er sei fast unnahbar. In der Branche wurde allerdings getuschelt, er fühle sich in letzter Zeit nicht mehr genügend anerkannt, weil nicht mehr so oft wie früher zu Stellungnahmen aufgefordert, zu Kunstdiskursen eingeladen. Zudem ging das Gerücht um, er sehe nicht mehr so gut: grauer Star, er müsse deshalb immer öfter eine Lupe zu Hilfe nehmen. Ich lasse den Punkt offen. Bleibt nur zu berichten, dass er sich keineswegs als unnahbar erwies; ich will zwar nicht behaupten, er wäre aufgelebt, als ich ihn zum ersten Mal um sein Urteil bat, doch schien er sich freier, leichter zu bewegen nach meiner Intrada; er war, trotz seines Alters, wieder der Alte, so widersinnig das klingen mag.
Ich legte ihm als Erstes »meinen« Claesz zur Begutachtung vor. Ich führte das Bild mit in einer flachen, speziell gezimmerten Kiste. Sorgfältig, fast rituell packte ich aus, Spannung steigernd. Erst einmal kommentarlos betrachtete er das Gemälde aus wechselnden Distanzen. Ich darf einflechten, dass ich in das Bild Alterungsspuren eingearbeitet hatte: nicht nur, indem ich Alters-Craquelé originalgetreu nachschuf, ich hatte auch zwei kleine Macken hinzugefügt wie weithin üblich bei langer Überlieferungsgeschichte – etwas Farbabrieb hier, eine kleine Verletzung der Leinwand dort. Marneffe ging mit der Lupe ins Detail, gab schließlich kund: »Eine in der Tat sehr sorgfältig ausgeführte Arbeit, aber ich möchte im Moment –«
Von der Fortführung des Satzes hing ab, ob meine langen, intensiven Bemühungen vergeblich waren. Es musste etwas geschehen, damit der vollendete Satz nicht zu meiner Niederlage führte, mir, schlicht gesagt, das Geschäft verdarb. Ich deutete an, so beiläufig wie irgend möglich in dieser heiklen Situation, was mir über die Nachtseite der honorigen Erscheinung bekannt geworden war – über einen Mann, der mit ihm in engstem Kontakt gestanden hatte und den ich auf einer langen Wanderung näher kennenlernte. Ich kürze diskret ab: Marneffe lebte in einer Scheinehe; glanzvolle Fassade einer zweckbestimmten Beziehung; Mann und Frau jeweils mit dominierender Neigung zum eigenen Geschlecht. Hinter dem noblen, honorigen Erscheinungsbild sah ich den Mann, der nachts zu Streifzügen in düstere Viertel Amsterdams aufbrach, sexuelle Ausschweifung suchend. Da es in der homosexuellen Szene wiederholt zu Ausbrüchen von Gewalt kommt, auch zu Raubüberfällen, führte er nie Bargeld mit sich, immer nur einen Scheck. Weiter: Einmal im Jahr reiste er nach Marokko, zu »seinem« Knabenbordell.
Eine Schwachstelle! Hier war der noble Herr zu packen, hier, in der kurzen Phase seines Schwankens, setzte ich an. Es genügten Andeutungen mit dem Stichwort: marokkanisches Knabenbordell, und die Unterhandlung nahm eine Wende zum Positiven. Das erwünschte Zertifikat wurde erstellt; die Aufwertung deutete sich an in einem lakonischen: »Durchaus eines Pieter Claesz würdig.« Was mir schmeichelte, ich war in meinem Künstlerehrgeiz angesprochen.
Zu klären war noch die Kaschierung der Finanzierung. Direkte Bezahlung des Gutachtens? Wäre eher peinlich gewesen, auch unter dem Vorzeichen des Nachdrucks, zu dem ich gezwungen war. So tarnte ich mein finanzielles Angebot als nachträglichen Druckkostenzuschuss für seine »Geschiedenis van het Hollandse stilleven«, die er, wie ich von einem Galeristen erfuhr, mitfinanziert hatte, sonst wäre das fünfbändige Werk im Schuber unerschwinglich geworden. Mein Tarn-Angebot ging über seinen Zuschuss allerdings weit hinaus – es entsprach in etwa einer Provision von fünf Prozent des zu erwartenden Erlöses von »meinem« Claesz.
Er nahm meinen Vorschlag, wie man so sagen darf: mit Kusshand an. Offenbar war etwas dran am Gerücht, gleichfalls vermittelt
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