Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
damals erschienen sie Suvaïdar willkürlich und überzogen. Sie hätte es niemals geschafft, diese Regeln fraglos zu akzeptieren. Ähnlich erging es den meisten ihrer Kameraden.
Auf Wahie war es ganz anders, beinahe das Gegenteil. Sicher, die erste Zeit hatte es Missverständnisse und Reibereien mit ihrenneuen Mitbürgern gegeben, aber Suvaïdar hatte ihr Bestes gegeben, sich ihnen anzupassen, und hatte alle Brücken zu ihrer Vergangenheit abgebrochen. Mittlerweile verstand sie die Mentalität ihrer Mitmenschen. Zudem barg das Leben auf Wahie gewisse Vorteile, sodass Suvaïdar von dem Gedanken, ihr schönes Apartment für ein einziges mickriges Zimmer in einem Haus des Clans zu verlassen, nicht gerade angetan war. Ganz zu schweigen davon, dass sie bei einer Heimkehr die vielen Kinder würde liefern müssen, die das genetische Zentrum ihr vorgab. Sie müsste ein Leben führen, in dem eiserne Disziplin herrschte. Nur die Arbeit würde zählen, und sie müsste sich einer strengen Etikette unterwerfen – und all das wegen einer hypothetischen Gefahr.
Genau dies wollte Suvaïdar den anderen gerade erklären, als das Signal des Holo-Kommunikators in ihrer Wohnung erklang. Suvaïdar näherte sich dem Monitor, auf dem zwei Männer von der Miliz in ihren grauen Uniformen zu sehen waren.
»Sie sind auf dem Dach«, sagte sie beunruhigt. »Falls sie bereits eine Nachricht aus Neudachren haben und wissen, was Win getan hat, könnten sie euch alle festnehmen.«
»Dann lasst uns schnellstens gehen«, sagte Tichaeris. »Wir nehmen den Fahrstuhl.«
Suvaïdar schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht am Haupteingang mit der Miliz zusammentreffen und erklären müssen, warum sie auf der Flucht war. Das hätte sie und die anderen nur zusätzlich in Gefahr gebracht.
»Zu riskant«, sagte sie. »Wir nehmen einen anderen Weg.«
Sie ging zur Bodentür auf dem Treppenabsatz und öffnete sie, um die fünfundvierzig Etagen hinunterzusteigen, gefolgt von den anderen.
Die Treppe, schmal und ohne Geländer, schien kein Ende zu nehmen. Bald erkannte Suvaïdar, dass sie das Risiko einging, sich einen Knöchel zu brechen, wenn sie mit ihren Sandalen weiterlief. Sie zog sie aus und nahm sie in die Hand. Die Metalltreppe war glatt. Ihre Beinmuskeln, die körperliche Betätigung nicht gewohnt waren, protestierten bereits nach zwölf Etagen. Da ihr langes, enges und steifes Kleid sie zwang, immer nur eine Stufeauf einmal zu nehmen, hielt sie es am Rand beider Seitenschlitze fest, zog kräftig daran und riss es auf Unterarmlänge ein. Dass sie ein Kleidungsstück ruinierte, das einen ganzen Wochenlohn gekostet hatte, störte sie nicht weiter. Es war sowieso das unbequemste Kleid, das man sich vorstellen konnte. Sie hatte es nur deshalb gekauft, weil Revann behauptet hatte, es sei ein absolutes Muss, wenn man in der Gesellschaft etwas gelten wolle. Suvaïdar verspürte einen Augenblick der Genugtuung, als hätte sie eine Schlacht gegen die langweiligen Regeln gewonnen, die es auf allen Planeten gab. Sie setzte den Abstieg befreiter fort.
Die Treppe führte zu einer dunklen Gasse, in der nur Wartungspersonal unterwegs war. Unten angekommen, streifte Suvaïdar wieder ihre unbequemen Schuhe über und ließ den Blick umherschweifen. Auf der einen Seite wurde die Gasse von einer Mauer begrenzt, auf der anderen Seite mündete sie in eine breite, beleuchtete Straße, von der aus die Erdgeschosse der Türme erreichbar waren.
Vorsichtig warf Suvaïdar einen Blick um die Ecke. Vor dem Eingang des Gebäudes parkte ein graues Auto der Miliz. Mehrere Mieter warteten darauf, in den Turm gelassen zu werden – eine kleine, unentschlossene Gruppe. Alle vermieden sorgsam, irgendetwas zu tun, das nach Protest aussehen könnte: Die Föderation hatte überall Augen und Ohren. Obwohl die Mehrzahl der Bewohner des Turmviertels nie die Gelegenheit hatte – oder besser das Pech –, persönlich auf ein Mitglied der Spezialeinheiten zu treffen, hatten alle schon von ihnen gehört oder sie im Holovid gesehen. Entsprechend groß war ihre Furcht.
Aus dem Gebäude kamen zwei Milizen, die eine Nachbarin Suvaïdars, die auf derselben Etage wohnte, zwischen sich hielten. Mit ihrem dunklen Haar und ihren Mandelaugen hatte die Frau Ähnlichkeit mit einer Ta-Shimoda. Die Männer stiegen mit ihr ins Auto und fuhren los.
»Ich glaube, sie suchen dich«, sagte Tichaeris, »aber diese Blödmänner von Sitabeh haben sich die erstbeste Person gegriffen, die dir ähnlich sieht, ohne
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