Das Gesicht des Drachen
»Los, antworte mir.«
Sie schluckte. »Für meine Tage. Du weißt schon, Binden.«
Auf einmal wurde Wu alles klar. Erschrocken wandte er ebenfalls den Kopf ab und deutete verärgert auf das Badezimmer. »Nimm etwas von dort.«
»Das geht nicht. Es ist zu unbequem.«
Wu war wütend. Es gehörte zu den Aufgaben seiner Frau, sich um solche Angelegenheiten zu kümmern. Kein Mann, den er kannte, hatte jemals diese. Dinger gekauft. »Also gut!«, rief er. »Also gut. Ich kaufe, was du brauchst.« Er weigerte sich, sie nach weiteren Einzelheiten zu fragen. Er würde den nächstgelegenen Laden ansteuern und dort die erstbeste Schachtel aus dem Regal nehmen. Das musste genügen. Er verließ die Wohnung und schloss die Tür hinter sich ab.
Auf den belebten Straßen Chinatowns schlug ihm ein Durcheinander aus Sprachen entgegen - Minnanhua, Kantonesisch, Putonghua, Vietnamesisch und Koreanisch. Auch Englisch, aber versehen mit mehr Akzenten und Dialekten, als er es je für möglich gehalten hätte.
Er bestaunte die Läden und Geschäfte, die gestapelten Waren, die gewaltigen Hochhäuser überall in der Stadt. New York schien zehnmal größer als Hongkong und hundertmal so groß wie Fuzhou zu sein.
Ich habe Angst um unsere Kinder. Wir müssen verschwinden. Wir müssen so weit wie möglich von hier fliehen...
Doch Wu Qichen hatte nicht vor, Manhattan zu verlassen. Schon sein ganzes Leben lang hegte der Vierzigjährige einen Traum, und er würde sich weder durch die Krankheit seiner Frau noch durch die leeren Drohungen irgendeines großmäuligen Schlangenkopfs davon abbringen lassen. Wu Qichen würde ein wohlhabender Mann werden, reicher als sonst jemand in seiner Familie.
Mit zwanzig hatte er im Paradise Hotel an der Hundong Road im Herzen Fuzhous angefangen, ganz in der Nähe des Hot Springs Park, und sich dort zunächst als Page und später als Direktionsassistent um reiche Chinesen und Europäer gekümmert. Damals war in ihm der Entschluss gereift, ein erfolgreicher Geschäftsmann zu werden. Er arbeitete hart, und obwohl er ein Viertel seines Gehalts bei den Eltern ablieferte, konnte er genug sparen, um gemeinsam mit seinen beiden Brüdern schließlich einen Andenkenladen an der Gutian Road zu eröffnen, unweit der berühmten Statue Mao Tsetungs. Mit dem dort verdienten Geld kauften sie ein Lebensmittelgeschäft, dem nach einiger Zeit zwei weitere Filialen folgten. Sie hatten vor, auf diese Weise mehrere Jahre durchzuhalten, so viel Geld wie möglich auf die hohe Kante zu legen und davon am Ende ein Gebäude zu erwerben, um damit groß in die Immobilienbranche einzusteigen.
Aber Wu Qichen beging einen Fehler.
Chinas Wirtschaft veränderte sich drastisch. Freihandelszonen blühten auf, und sogar die Spitzenpolitiker sprachen plötzlich wohlwollend über Privatfirmen - Staatsoberhaupt Deng Xiaoping persönlich sagte: »Wohlstand ist ruhmreich.« Wu jedoch versäumte es, die Grundregel des chinesischen Lebens zu berücksichtigen: dass die KPC - die Kommunistische Partei Chinas - immer an oberster Stelle steht. Unverblümt forderte er engere Wirtschaftsbeziehungen mit Taiwan, ein Ende des ehernen Prinzips der garantierten Vollbeschäftigung ungeachtet jeglicher Rentabilität und ein scharfes Durchgreifen gegen all jene Parteifunktionäre und Beamten, die sich bestechen ließen oder Firmen willkürlich mit Steuern belegten. Ironischerweise waren Wu diese Punkte relativ egal; er wollte lediglich die Aufmerksamkeit westlicher Handelspartner aus Europa und Amerika erregen, die, so träumte er, mit ihrem Investitionskapital zu ihm kommen würden, wenn er sich als Stimme der neuen chinesischen Wirtschaft etablierte.
Doch nicht der Westen hörte den hageren Mann, sondern die Kader und Sekretäre der Kommunistischen Partei. Plötzlich tauchten offizielle Kontrolleure in Wus Geschäften auf und stellten Dutzende von Verstößen gegen Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften fest - von denen sie viele an Ort und Stelle einfach erfanden. Die Bußgelder fielen derart horrend aus, dass die Brüder schon bald Bankrott gingen.
So beschämend dieser Rückschlag auch sein mochte, er konnte Wu nicht von dem Ziel abbringen, reich zu werden. Hier, in dem Schönen Land, schienen an jeder Ecke günstige Gelegenheiten zu lauern, und so ließ Wu Qichen sich dazu verleiten, mitsamt seiner Familie eine illegale Einreise zu riskieren. Er würde in Chinatown viele Häuser besitzen, mit einer Limousine zur Arbeit fahren und dann - wenn es ihm am
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