Das Grauen im Museum
die herrschenden Sitten und Gebräuche. Es wurde lediglich darauf geachtet, daß die Vergnügungssucht des einzelnen nicht zu einer Lähmung des gesellschaftlichen Lebens führte. Die Familie war schon vor langer Zeit abgeschafft worden, und die Ungleichheit der Geschlechter im Hinblick auf Bürgerrechte und gesellschaftliche Funktionen war verschwunden. Das tägliche Leben war durch einen rituellen Ablauf gekennzeichnet, mit Spielen, Betäubung im Rausch, Folterung von Sklaven, Tagträumen, gastronomischen und emotionalen Orgien, religiösen Übungen, exotischen Experimenten, künstlerischen und philosophischen Diskussionen und ähnlichem als wichtigsten Tätigkeiten. Besitz vorwiegend an Land, Sklaven, Tieren, Anteilen am Gemeinwesen von Tsath und Barren des magnetischen Tulu-Metalls, das einst als universelles Zahlungsmittel gedient hatte wurde nach einem sehr komplizierten System verteilt, das gleiche Anteile für alle freien Bürger vorsah. Armut war unbekannt, und Arbeit gab es nur in Form gewisser administrativer Aufgaben, die von sorgfältig geprüften und ausgewählten Individuen wahrgenommen wurden. Zamacona hatte seine liebe Mühe, Verhältnisse zu beschreiben, die grundverschieden von allem waren, was er je gekannt hatte, und der Text seiner Handschrift erwies sich in diesem Punkt als besonders rätselhaft.
Kunst und Wissenschaft, so schien es, hatten in Tsath einen sehr hohen Stand erreicht, waren aber uninteressant und dekadent geworden. Die Herrschaft der Maschinen hatte zu einem bestimmten Zeitpunkt die normale Entwicklung der Ästhetik gestört und zu einer leblosen geometrischen Tradition geführt, die sich verhängnisvoll auf den sprachlichen Ausdruck auswirkte. Diese Phase war zwar bald überwunden worden, hatte aber in allen Bildwerken und Dekorationen ihre Spuren hinterlassen, so daß spätere Werke, mit Ausnahme religiöser Darstellungen im konventionellen Stil, kaum Tiefe oder Gefühl aufwiesen. Deshalb wurde
archaisierenden Reproduktionen früherer Werke allgemein der Vorzug gegeben. Die Literatur war individuell und analytisch, und zwar in einem so hohen Grade, daß sie Zamacona vollkommen unverständlich war. Die Naturwissenschaften waren hochentwickelt und präzise gewesen und hatten alle Gebiete mit Ausnahme der Astronomie umfaßt. In letzter Zeit hatten sie jedoch einen Niedergang erlebt, da die Menschen es zunehmend als nutzlos empfanden, ihren Verstand durch die zahllosen Details und Verästelungen wissenschaftlicher Kenntnisse zu belasten. Man hielt es für vernünftiger, von den tiefgründigsten Spekulationen abzulassen und die Philosophie auf konventionelle Formen zu beschränken. Die Technik konnte natürlich auch auf dem niedrigeren Wissensstand in Gang bleiben. Die Geschichtswissenschaft wurde mehr und mehr vernachlässigt, aber die Bibliotheken verfügten über exakte und zahlreiche Chroniken der Vergangenheit. Das Interesse an der Geschichte war aber nach wie vor stark, und sehr viele Menschen würden sich über die Neuigkeiten aus der oberirdischen Welt freuen, die Zamacona brachte. Im allgemeinen neigten die Unterirdischen in modernen Zeiten jedoch mehr zum Gefühl als zum Denken, so daß jetzt derjenige, der neue Möglichkeiten der Unterhaltung erfand, höheres Ansehen genoß als jemand, der sich um die Bewahrung historischer Fakten kümmerte oder die Rätsel des Kosmos zu ergründen suchte. Religion war ein wichtiges Interessengebiet in Tsath, obwohl nur wenige tatsächlich an Übersinnliches glaubten. Was die Menschen anzog, waren die ästhetischen Erlebnisse und der Gefühlsüberschwang, die durch die mystischen Stimmungen und sinnlichen Riten im Zusammenhang mit dem pittoresken Glauben der Vorfahren ausgelöst wurden. Tempel, die dem Großen Tulu geweiht waren, einem Geist universeller Harmonie, der seit Urzeiten als der krakenköpfige Gott dargestellt wurde und der alle Menschen von den Sternen auf die Erde gebracht hatte, waren die prachtvollsten Bauten in ganz K’n-yan, denen jedoch die kryptischen Schreine des Yig, des als Vater aller Schlangen symbolisierten Lebensprinzips, kaum nachstanden. Im Laufe der Zeit erfuhr Zamacona viel über die Orgien und Opfer im Zusammenhang mit dieser Religion, doch legte er bei ihrer Beschreibung in seiner Handschrift eine fromme Zurückhaltung an den Tag. Er selbst nahm nie an irgendwelchen der Riten teil, ausgenommen solche, die er für Perversionen seines eigenen Glaubens hielt, und er versuchte bei jeder Gelegenheit, die
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