Das Grauen im Museum
Ein Gedanke ragte diabolisch aus allen anderen hervor, und sie schrie beinahe laut auf, als er sich ihr mit aller Macht ins Gehirn brannte. Zu guter Letzt war die Natur ihr doch gnädiger, als sie befürchtet hatte. Eine tiefe Ohnmacht schloß ihr die Augen, und sie wachte bis zum Morgen nicht mehr auf. Auch gesellte sich kein neuer Alptraum zu dem, den das mitgehörte Gespräch ihr verursacht hatte.
Die Morgensonne brachte eine Linderung der Spannung. Was in der Nacht geschieht, wenn man müde ist, erreicht das Bewußtsein oft in verzerrter Form, und Georgina sagte sich, daß ihr Gehirn Teile einer normalen medizinischen Unterredung merkwürdig eingefärbt haben mußte. Anzunehmen, daß ihr Bruder, der einzige Sohn des sanftmütigen Frances Schuyier Clarendon, brutaler Opferungen im Namen der Wissenschaft schuldig sein könnte, wäre Verrat an ihrem eigenen Blut gewesen, und so beschloß sie, ihren Bruder nicht auf diese Sache anzusprechen, um sich von ihm nicht wegen ihrer überschäumenden Phantasie auslachen lassen zu müssen. Als sie am Frühstückstisch erschien, stellte sie fest, daß Alfred schon gegangen war, und bedauerte, nicht einmal an diesem zweiten Morgen Gelegenheit zu finden, ihn zu seiner neu erwachten Tatkraft zu beglückwünschen. So verzehrte sie schweigend ihr Frühstück, das ihr die alte Margarita, die mexikanische Köchin, servierte, las die Morgenzeitung und setzte sich dann mit einer Näharbeit ans Wohnzimmerfenster, von wo aus sie den großen Garten überblicken konnte. Draußen war alles ruhig, und sie sah, daß die letzten Tierkäfige geleert worden waren. Der Wissenschaft war gedient, und in der Kalkgrube lag alles, was von den einst so hübschen und lebhaften kleinen Tieren übriggeblieben war. Dieses Gemetzel hatte sie schon immer betrübt, aber sie hatte nie Einwände erhoben, da sie wußte, daß alles zum Wohle der Menschheit geschah. Als Schwester eines Wissenschaftlers, so sagte sie sich immer, war man so etwas Ähnliches wie die Schwester eines Soldaten, der tötet, um seine Landsleute vor ihren Feinden zu beschützen.
Nach dem Mittagessen nahm Georgina wieder ihren Platz am Fenster ein, und sie hatte eine Zeitlang emsig genäht, als ein Pistolenknall draußen im Garten sie erschrocken aus dem Fenster sehen ließ. Nicht weit vom Labor sah sie die gespenstische Gestalt Suramas mit einem Revolver in der Hand, und sein
Totengesicht verzerrte sich zu einem absonderlichen Ausdruck, während er höhnisch über eine kauernde Gestalt in einem schwarzen Seidenanzug lachte, die ein langes, tibetisches Messer in der Hand hielt. Es war der Diener Tsanpo, und als sie sein verschrumpeltes Gesicht erkannte, mußte Georgina wieder daran denken, was sie am Abend ungewollt mitangehört hatte. Die blanke Messerklinge blitzte in der Sonne, und plötzlich belferte Suramas Revolver erneut los. Das Messer fiel dem Mongolen aus der Hand, und Surama glotzte gierig auf seine zitternde, verängstigte Beute hinab. Im nächsten Augenblick sprang Tsanpo mit einem raschen Blick auf seine unverletzte Hand und das herabgefallene Messer auf und rannte wieselflink vor dem herannahenden Laborassistenten davon aufs Haus zu. Surama war jedoch noch schneller und erwischte ihn mit einem einzigen Satz und packte ihn an der Schulter. Einen Moment lang wollte sich der Tibeter zur Wehr setzen, aber Surama packte ihn wie ein Tier am Genick, hob ihn hoch und trug ihn zum Labor. Georgina hörte, wie er in sich hineinlachte und den Mann in seiner eigenen Sprache verhöhnte, und sie sah das vor Angst verzerrte und zuckende Gesicht des Opfers. Als sie jählings begriff, was sich da abspielte, überwältigte sie unsagbares Grauen, und sie fiel zum zweitenmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden in Ohnmacht.
Als sie wieder zu sich kam, war das Zimmer vom goldenen Licht der Abendsonne durchflutet. Georgina hob die herabgefallenen Nähsachen auf und legte sie in den Korb zurück. Böse Zweifel quälten sie, aber schließlich kam sie doch zu der Überzeugung, daß die Szene, die ihr das Bewußtsein geraubt hatte, nur allzu real gewesen sein mußte. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren also grausige Wahrheit. Sie hatte nicht die leiseste Vorstellung, wie sie sich verhalten sollte, und war insgeheim dankbar, daß ihr Bruder nicht auftauchte. Sie mußte mit ihm sprechen, aber nicht jetzt. Sie konnte jetzt mit niemandem sprechen. Und als sie mit Schaudern an die monströsen Vorgänge hinter den vergitterten Laborfenstern dachte,
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