Das Gurren der Tauben (German Edition)
erlangen. Und dieses Streben nach Freiheit
und Unabh ä ngigkeit, nach
einem Leben ohne Diktatur, fand ich in jedem Werk der Klassiker wieder.
Es machte mich w ü tend, wenn ich
die Vorw ö rter von den
Herausgebern las. Wie konnten sie sich anma ß en die Arbeiten dieser Dichter f ü r sich zu
beanspruchen?! Mit welchem Recht setzten sie deren wahren Humanismus auf eine
Stufe mit ihrem Pseudohumanismus, den sie Sozialismus nannten?! Und warum lie ß die gesamte
DDR-Bev ö lkerung sich das
bieten? – Wahrscheinlich
deshalb, weil nicht die gesamte DDR-Bev ö lkerung in einer Einzelzelle in Bautzen sa ß und sich mit
dieser Frage besch ä ftigte ...
Beim n ä chsten Besuch
sah ich meinen Vater wieder. Diesmal mit Bobby als einzigem Aufpasser. Die
Stunde verging viel zu schnell und ich wartete sehns ü chtig auf das n ä chste Mal und
dann wieder auf das n ä chste Mal.
Wieder
Weihnachten. Es war das gleiche, wie die beiden Jahre zuvor. Man sagt, der
Mensch ist ein Gew ö hnungstier. Doch daran, dass Heilige Fest in einer Einzelzelle zu
verbringen, konnte ich mich nicht gew ö hnen.
Der Dienstag war
mein Badetag. Ich wurde vormittags aus meiner Zelle geholt und ging nur mit
Unterhose bekleidet in eine Badezelle im benachbarten Isolationsbereich. An
einem dieser Badetage im Juni 1983 passierte etwas Ungew ö hnliches:
Ich lag in der
Wanne, das Wasser lief noch. Pl ö tzlich h ö rte ich meinen
Namen. Ich drehte den Wasserhahn zu und lauschte, konnte aber nichts h ö ren. Als ich den
Hahn wieder aufdrehte, h ö rte ich wieder meinen Namen. Ich war ü berzeugt davon, dass mir meine Fantasie einen Streich
spielt.
Als die Wanne
voll war, drehte ich den Hahn zu und rekelte mich im warmen Wasser. Da h ö rte ich es laut
und deutlich: “ Andy!"
Ich wusste nicht
wo es herkam, doch dachte sofort ans Telefon. Ich stieg aus der Wanne und
schaute mir das Abflussrohr unter dem Waschbecken an. Es war fest verschraubt
und konnte nicht bewegt werden. Doch zwischen Waschbecken und der Wanne kam ein
dickes Rohr aus dem Boden. Es war nicht l ä nger als 30 cm und mit einem Deckel versiegelt.
Der Deckel war
durch die Farbe mit dem Rohr verkleistert. Es gelang mir mit den Fingern ä geln dazwischen
zu kommen und ihn abzurei ß en. Mir schlug Gestank entgegen und ich h ö rte Blubbern und viele Hintergrundger ä usche. “ Hallo! ” , fl ü sterte ich.
“ Na endlich! ” , sagte eine
Stimme.
“ Wer ist da? ” , fragte ich.
“ Ich hei ß e Tommy. Ich
soll dich von Harald gr üß en. Er hat mir alles ü ber dich erz ä hlt. ”
Ich blickte
besorgt zur T ü r.
“ Ich bin seit
gestern hier. Der Arrest ist ü berf ü llt, deshalb
haben die mich hierher gebracht ” , sagte Tommy.
“ Wo bist du denn? ” , fragte ich.
“ Genau ü ber dir! ”
Ich h ö rte wie jemand
von oben gegen die Decke klopfte. “ O. K., O. K., ich glaub's dir ” , fl ü sterte ich und
schaute wieder zur T ü r. “ Warte eine
Minute. ”
Ich zog den St ö psel aus der
Wanne, trocknete mich ab und zog meine Unterhose an. Dann ging ich wieder zum
Rohr: “ Bin zur ü ck Tommy. Wie m ü ssen vorsichtig
sein. Die Bullen k ö nnen jeden Moment kommen. ”
“ In Ordnung ” , sagte Tommy.
“ Warum hast du
Arrest gekriegt? ” , fragte ich.
“ Wegen dem neuen
VZD. Hast du schon mit dem zu tun gehabt? ”
“ Ist das nicht
mehr Trixi? ” , fragte ich.
“ Nee ” , sagte Tommy,
der einen ausgepr ä gten Berliner Dialekt sprach, “ es gib einen Neuen. Wir nennen ihn H ä hnchen. Ein
Vollidiot. Wegen dem ist der ganze Arrest voll. Der will alles umstrukturieren
und neue Methoden einf ü hren. ”
Ich h ö rte Schl ü sselklappern. “ Die Bullen! ” Ich sprang auf,
legte den Deckel zur ü ck aufs Rohr und stellte mich unters Fenster. Es dauerte eine Weile bis
sich die W ä rter zu mir
durchgeschlossen hatten. In dieser Zeit h ä tte ich mich noch vern ü nftig von Tommy verabschieden k ö nnen. Verdammt!
Was war ich f ü r ein Feigling
geworden!
Ich entschied, beim
n ä chsten Mal nicht
zu baden. Stattdessen wollte ich mich die ganze Zeit mit Tommy unterhalten. Die
Woche ü ber hoffte ich,
dass er am Dienstag noch im Arrest sein w ü rde. Mein Optimismus hielt sich in Grenzen. Um so gl ü cklicher war
ich, als er in der folgenden Woche noch da war.
Wir f ü hrten ein
ausgiebiges Gespr ä ch. Tommy sagte, dass im Haus die seltsamsten Ger ü chte ü ber mich
kursierten. Jeder wusste, dass auf der Isolationsstation im ersten Stock ein
Neger war.
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