Das Habitat: Roman (German Edition)
dem Gewehr trat an mich heran und reichte mir die Hand.
Der Mann war groß, hager und hatte eine scharfe Hakennase. Roger, so hatte er sich mir vorgestellt, als wir einige Zeit später in meinem Unterschlupf saßen. Wir hatten ein Feuer entzündet und rösteten etwas aus meinem Vorratsbeutel.
Die Hitze der Flammen tat mir gut, denn trotz der warmen Nacht zitterte ich leicht – doch ich vermutete, dass dies mehr an den Nachwirkungen des vergangenen Schreckens lag.
„Ruinenratten.“, beantwortet Roger meine Frage nach den nächtlichen Angreifern, mit einem verächtlichen Ausdruck in der Stimme. „So werden sie genannt. Sie hausen hier überall. Wahrscheinlich wollten sie dich zuerst nur ausrauben. Der Inhalt deiner Taschen dürfte alles gewesen sein, was sie interessiert hatte. Erst als Du angefangen hast, dich zu wehren, hielten sie es wahrscheinlich für das Beste, dich zum Schweigen zu bringen. Sie haben wenig zu verlieren – und noch weniger Skrupel.“
Später nahm ich an, sie mochten mir möglicherweise bereits vom Hafen aus gefolgt sein. Roger zuckte nur mit den Schultern, als ich ihm gegenüber meinen Verdacht ansprach.
„Möglich. Sie treiben sich oft am Hafen herum, um Tagelöhner oder Betrunkene auszurauben.“
Als ich ihn kurz darauf fragte, was ihn eigentlich hierher in die Ruinen verschlagen hätte, antwortete er nur ausweichend. Überhaupt gab er sich, was seine Person betraf, nicht besonders auskunftsfreudig. Er antwortete freundlich, doch nichtssagend.
Er nahm sich etwas von dem Rauchfleisch und kaute bedächtig darauf herum. An der Art wie er dies tat sah ich, dass er offenbar keinen besonderen Appetit zu haben schien. Er konnte kaum einer jener Hungerleider sein, die mich vorhin überfallen hatten, um mir das Bisschen zu rauben, das in meinen Taschen war. Seine Kleidung wirkte ordentlich und seine ganze Haltung deutete auf ein gewisses anerzogenes Benehmen hin, das auf einen hohen Stand hinwies. Das ließ sich auch an der Art erkennen, wie er aß – langsam und mit Bedacht.
Ich besah ihn mir im flackernden Licht genauer. Irgendetwas an seinem Gesicht kam mir bekannt vor. Ich zermarterte mir das Hirn, wo ich ihn bereits schon einmal gesehen haben könnte.
„Was treibt dich in diese Gegend, Neil?“, fragte er. (Ich hatte mich ihm mit dem Namen vorgestellt, den ich bereits auf der Kathrina benutzt hatte.) Ich blieb bei der Geschichte, die ich bereits den Fischern der Waking Ned aufgetischt hatte. Er nickte nur und nahm ein paar Schluck Wasser aus einer der Flaschen, die ich in meinem Beutel gehabt hatte.
Scharf zeichnete sich sein Profil als Schattenriss an der Wand ab. Deutlich stach die Nase daraus hervor. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Plötzlich wusste ich, wo ich diesen Mann bereits einmal gesehen hatte. Er war der Mann gewesen, der sich so intensiv den Studien der Anschläge auf der Säule gewidmet hatte, als ich jenes seltsame Gefühl gespürt hatte, beobachtet zu werden.
Die Erkenntnis durchfuhr mich wie ein Blitz. Ich versuchte jedoch, mir nichts anmerken zu lassen. Ich beantwortete freundlich seine Fragen und zwang mich sogar zu einem Lächeln, als ich ihm erneut für meine Rettung dankte. Diese Dankbarkeit war durchaus echt, denn mir war klar, dass ich ohne sein Einschreiten nun nicht mehr am Leben gewesen wäre. Dennoch, ich traute ihm nicht – und mein Misstrauen wuchs von Augenblick zu Augenblick.
Ich überlegte bereits, wie ich seiner Gesellschaft würde entkommen können, da sagte er plötzlich unvermittelt:
„Ich denke nicht, dass die Burschen sich noch einmal hier blicken lassen – zumindest nicht heute Nacht. Die dürften fürs Erste wohl genug haben.“
Die Art wie er dies sagte missfiel mir zutiefst. Schließlich sprach er immerhin vom Tod eines Menschen – auch wenn dieser mit mir wohl das Selbe vorgehabt hatte.
„Ich lasse dich nun alleine.“
Das überraschte mich. Ich weiß nicht weshalb, aber innerlich hatte ich mich bereits darauf vorbereitet, ihm, unter irgendeinen Vorwand, entwischen zu müssen. Dieser Mann gab mir immer mehr Rätsel auf. Hatte er mich wirklich hierher verfolgt – wie ich mutmaßte? Womöglich sogar war er mir bereits seit dem Mittag gefolgt. Aber weshalb? Und wenn dem so gewesen war, weshalb ließ er mich nun ohne weiteres alleine? Ich wurde nicht schlau aus alledem.
Bevor er sich anschickte, sich an den Wurzeln des Baumes emporzuarbeiten, nannte er mir noch eine Adresse. Dort solle ich nach ihm fragen,
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